Alias XX
er pflanzte nicht aus irrealen Hoffnungen heraus Blumenzwiebeln. Vielleicht fehlte es ihm an Tiefgründigkeit – doch dafür liebte sie ihn ebenso wie für seine Selbstsicherheit, sein unumstößliches, nie hinterfragtes Selbstvertrauen. Hier im Schatten jedoch wirkte er ziellos und unsicher.
»Earl?«, sagte sie.
Er drehte sich um. Er sagte nicht: »Mein hübsches Mädchen.«
Sie fasste zur Kette der Lampe, und er sagte: »Harriet.«
Harriet. Für Tom blieb die Welt stehen. Der ganze Raum, das ganze Haus war erfüllt von ihr. Es gab keinen Platz mehr für die Luft, für das Licht. Für Tom. Ihre gewittergrauen Augen tanzten. Ihr Gesicht glühte, ihr Haar war zerzaust, in losen Strähnen fiel es ihr über den schlanken Hals. Ihr Haar, das nach Lavendel und Salbei roch. Ihre klassische, vorwitzige Nase. Ihre Buttermilchhaut, die Rundung ihres nackten Rückens, der Bogen ihres Rückgrats mit den beiden Grübchen am Ansatz. Dann sah sie ihn, und alles war anders. Harriet.
»Tommy?«
Er trug seinen Sonntagsanzug, der ihm eine Nummer zu groß war. Er stand am Schreibpult, in seiner gesunden Hand hielt er einen ihrer Umschläge. Das Fenster hinter dem kleinen Sofa war zerbrochen, der Rahmen gesplittert. Er sagte nichts. Er war Earl so ähnlich, und dann auch wieder nicht. Er war so groß wie er, hatte seine Augen, seine Stimme. Früher hatte er auch Earls Präsenz … aber das war nicht mehr. Statt ruhiger Autorität strahlte er Rastlosigkeit aus; in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz, sein Gesicht war gerötet.
»Du hast die Scheibe eingeschlagen«, sagte sie.
»Ich dachte, du wärst nicht da.«
»Wissen sie, dass du fort bist?«
»Ich suche Earl.«
»Schon wieder.«
»Wenn man es beim ersten Mal nicht schafft …« Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.
»Tom«, sagte sie. »Du siehst aus, als hätte man dich rückwärts durch eine Hecke geschleift.«
»Na ja, mit dieser Krawatte. Kann ich mir eine von deinem Mann leihen?«
»Nein. Nein, das kannst du nicht.«
»Kannst du dich noch erinnern, als wir uns das letzte Mal gesehen haben?« Er lächelte distanziert. »Du hast Schokolade getrunken.«
Natürlich erinnerte sie sich. »Nein, Thomas, ich erinnere mich nicht. Ich hab immer viel zu tun.«
»Im Glynn’s. Eine weiße Tasse mit blauem Rand. Ein Lippenstiftfleck klebte dran, als du sie auf die Untertasse zurückgestellt hast. Du hast dich von mir verabschiedet. Du hast gesagt, du würdest fortgehen.«
»Ja.«
»Du bist in der Stadt geblieben«, sagte er.
»Du hast dein Offizierspatent zurückgegeben.« Bleib bei den Fakten. Stell ihn ruhig und ruf dann im Krankenhaus an, damit sie ihn abholen. »Du bist nach Kanada gefahren.«
»Ich hab in Philadelphia auf ein Cheesesteak angehalten. Du wusstest, dass ich gehe?«
»Deine Mutter hat’s mir gesagt. Du solltest ihr öfter schreiben.«
»Deiner Schwiegermutter.«
»Hör auf, Thomas.«
»Hat sie dir gesagt, dass ich es kaum erwarten konnte, gegen die Faschisten zu kämpfen?« Er ließ den Umschlag auf das Pult fallen. »Weißt du, das war früher, vor ’39, auch schon so.«
»Sie weiß, warum du gegangen bist. Ich weiß, warum du gegangen bist.«
Er sagte nichts. Harriet fragte sich, ob er sie überhaupt gehört hatte.
»Ich war auf Kreta«, sagte er. »Als die Insel fiel.«
»Tommy – weiß das Krankenhaus, dass du fort bist?«
»Man hat mich wie einen Helden behandelt. Der Yankee-Freiwillige, der für die hehren Ideale kämpft. Aber der war ich nicht, nicht so wie meine Männer. Manny und Rosenblatt, Tardieu, O’Rourke – diese Jungs waren die wahren Kämpfer, Harry.«
»Während du …«
»Du weißt, was ich bin. Du weißt, warum ich mich gemeldet habe.«
»Und ist das meine Schuld? Willst du von mir hören, dass ich daran schuld bin? Dass du meinetwegen nach Kanada gefahren bist? Ist es meine Schuld, dass du …« Sie zeigte auf seine Hand, auf sein Herz. »… verwundet bist? Dass du Schmerzen hast? Bist du deswegen gekommen – um mir zu zeigen, was ich getan habe? Bist du deswegen hier?«
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er.
»Hör auf, dich hinter Earl zu verstecken, Thomas. Du bist kein Kind mehr.«
Er zuckte merklich zusammen. Gut. Wenn sie ihn mit Worten ins Krankenhaus zurücktreiben könnte, würde sie es tun. Wenn sie die Grausamkeiten, die sie ihm angetan hatte, nur mit noch mehr Grausamkeiten ausgleichen konnte, würde sie grausam sein.
»Schau dich doch an!« Sie schaltete eine weitere Lampe an, dann
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