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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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noch eine, während sie näher kam. »Du bist drei Jahre jünger als ich, siehst aber aus, als wärst du so alt wie mein Vater. Weißt du, was deine Mutter mir gesagt hat? Ja, meine Schwiegermutter. Sie hat dich immer bevorzugt – Earl war so robust, den konnte nichts umhauen.«
    Etwas in seinen Augen blitzte auf, und sie fuhr fort: »Du weißt genau, was sie damit meint. Und ich auch. Sie sagte, von den beiden Brüdern ging der falsche nach Annapolis, und der falsche ging nach Amherst. Sie hätte es gern gesehen, wenn du Professor geworden wärst, Tom, oder Dichter oder Priester. Schau dich an. Du hast den Blick eines Flüchtlings. Keine Heimat, kein Zuhause, keine Familie. Du … du bist verletzt. Tut mir leid, und ich …«
    »Es ist keine Kriegsneurose.« Tom legte die Hand auf den seidenbespannten Stuhl. »Ich bin ganz ruhig, ich bin …«
    »Es tut mir leid, Tom. Es muss sehr hart für dich sein. Aber so wie jetzt kannst du nicht weitermachen. Verstehst du mich? So kann es nicht weitergehen.«
    »Earl ist fort.« Tom nahm einen breitkrempigen Filzhut vom Stuhl und drehte ihn in der Hand wie ein Juwelier, der ein Schmuckstück betrachtete. »Er ist verschwunden.«
    »Er hat seine Arbeit, so wie ich meine habe.«
    »Man weiß nicht, wo er ist. Bloomgaard weiß es nicht. Niemand weiß es. Er ist fort. Hat sich in Luft aufgelöst. Er hatte ein Treffen mit einem Nazi-Agenten … in London, einem Agenten der …«
    »Ich will nichts davon hören. Sprich nicht von seiner Arbeit.«
    »Er ist untergetaucht, Harriet. Sie wissen nicht, wo er steckt.«
    »Glaubst du, Earl hält sich an Stechuhren? Er ist ein Cowboy in Gesellschaft von Cowboys. Er tut, was ihm gefällt.«
    »Schon mal von einem Lokal namens Rapids gehört?«
    »Nein.«
    »Ich muss seine Papiere durchsuchen.«
    »Das wirst du ganz sicher nicht tun.«
    »Harriet.«
    »Nein«, sagte sie.
    »Ich muss, ich muss …«
    »Thomas, nein.«
    »Earl«, sagte er, und in seiner Stimme schwang etwas ganz Entsetzliches mit.
    Es wurde sehr still. Harriet legte ihm die Hand auf den Arm.
    »Keiner ist schuld daran, Tommy. Es herrscht Krieg. Menschen sterben.«
    »Du hast mich mal geliebt.«
     
    Als Tom Harriet zum ersten Mal sah, hatte sie ihm an einem breiten Tisch mit einer schneeweißen Tischdecke gegenübergesessen. Die schweren Kristallgläser funkelten, das Silber blitzte, und die Bediensteten in ihren Jacketts und Handschuhen waren ein so prächtiger Anblick, dass Tom vor ihnen fast salutiert hätte.
    Es war einer dieser Anlässe, die er so sehr hasste. Eine Dinnerparty für sechzehn Gäste und kaum Gesprächsstoff für vier. Früher hatte er sich dabei – unter der amüsierten Fuchtel seiner Mutter – vielleicht ganz manierlich benommen. Er wusste, welche Gabel zu benutzen war, dass man nicht in die Sauciere spucken sollte. In letzter Zeit allerdings hatte er unter der Fuchtel der fünfzehnten Infanterie gestanden, dem »Can Do«-Regiment in Tientsin, wo man sich kaum darum geschert hatte, wo man seinen Ellbogen hinsetzte. Er war in China gewesen in jenem Dezember 1937, als die Japaner überraschend die USS Panay auf dem Jangtse angriffen. Ließen in der Stunde fünfzig Bomben runtergehen und beschossen dann die ans Ufer watende Mannschaft. Aber die USA ließen sie dafür bitter büßen. Verlangten ein paar Millionen für das Kanonenboot – immerhin das erste Schiff der US-Marine, das durch einen Luftangriff versenkt worden war – und eine ernsthafte Entschuldigung noch dazu. O ja, sie ließen sie so richtig büßen.
    Kurz darauf wurde das Fünfzehnte von China abgezogen. Im Spätfrühling fand sich Tom auf Urlaub in Washington D.C. wieder, wo ihn sein Onkel für das abendliche Bacchanal gewaltsam in einen Smoking steckte. Ein neuer britischer Sicherheitskoordinator war ernannt worden, und dieser tat, was er konnte, um die Spannungen zwischen den britischen und amerikanischen Nachrichtendiensten zu entschärfen – unter anderem gab er Dinnerpartys. Alle sollten eine einzige glückliche Familie sein.
    Earl befand sich zu diesem Zeitpunkt in Antwerpen, weshalb Tom von seinem Onkel für die Dinnerparty zwangsverpflichtet wurde. Tom sprach zwar von Manövern, aber Sam grummelte nur was von »Röcke patrouillieren«, und so erschien Tom und bemühte sich, vor den Kellnern nicht die Hacken zusammenzuschlagen. Wobei er sich so wohl wie beim Zahnarzt fühlte, bis er sie schräg gegenüber am Tisch entdeckte. Sie trug ein weißes Reisekleid und war neben einem Mann mit

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