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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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dünnen Lippen platziert, der beim Reden spuckte. Sie spielte mit dem silbernen Serviettenring und wandte sich nicht ab. In ihren grauen Augen lag nichts als offene Aufmerksamkeit, dazu vielleicht noch ein Anflug von Humor, wenn man einen Blick dafür hatte. Sie konnte kaum als Schönheit bezeichnet werden. Sie gehörte zu jenen Engländerinnen, die an fünf von sieben Tagen langweilig und fad erschienen, an den beiden anderen allerdings eine faszinierende Ausstrahlung besaßen. Tom war das immer unverständlich gewesen. Am Dienstag zum Abendessen war sie die graue Maus. Am Mittwoch beim Lunch brillierte sie. Sie hatte eine makellose, schimmernde Haut und sprach einen astreinen britischen Akzent. Aber es spielte keine Rolle. All das – wie sie aussah, wie sie sprach – spielte keine Rolle. Harriet war Harriet. Es gab nichts, woran sie gemessen werden konnte.
    Nach dem Essen erlöste Tom sie aus der Gesellschaft des schmallippigen Herrn, und sie gingen auf die Veranda. Es war kühl, aber seine heißen Finger schlossen sich um den silbernen Serviettenring in seiner Tasche – sein erstes Souvenir von ihr.
    Sie und ihr Vater befanden sich auf einer dreimonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten. Sie hatten die üblichen Sehenswürdigkeiten besichtigt – Boston, New York, Washington. Tom erfuhr später, dass ihr Vater an quasi diplomatischen Treffen teilnahm und es sich bei opulenten Essen mit Zeitungsleuten und Industriellen gut gehen ließ. Er fragte sich immer, ob Chilton dabei Edward R. Murrow kennen gelernt hatte, der zu jener Zeit bei CBS Leiter der Abteilung Diskussionen und Erziehung war – und dessen spätere Berichterstattung über die Bombenangriffe auf England mehr Amerikaner dazu veranlasste, für die Briten Partei zu ergreifen, als alle anderen Beeinflussungsversuche. Chilton war Repräsentant der »Cliveden-Clique«, die der Beschwichtigungspolitik positiv gegenüberstand. Er vertrat fest die Überzeugung der Mehrheit: Frieden um jeden Preis. Daran lag nichts Verwerfliches, zum Teufel, so dachte doch die Mehrheit der Amerikaner noch immer, trotz Ed Murrows Rundfunksendungen während der Nazi-Angriffe, bei denen im Hintergrund die Explosionen und Sirenen zu hören waren.
    An jenem Abend ereignete sich auf der Veranda in Washington eine andere Art von Explosion. Es dauerte drei Stunden, bis Tom sich in Harriet verliebt hatte. Drei Monate, die er um sie warb. Drei Tage, um sie zu verlieren. An Earl, der ihn verraten hatte …
     
    Sie hatte zwei Lampen angeschaltet – eine in Licht getauchte Gestalt, ein strahlender Glanz, der sich ihm langsam näherte. Harriet trug kein Parfüm, aber an nichts erinnerte sich Tom so deutlich wie an ihren Duft. Er hüllte ihn ein. Er ertrank darin. Jahrelang hatte er sie nicht gesehen, und trotzdem kannte er jede Linie in ihrem Gesicht.
    Sie sprach ein so kultiviertes Englisch, dass alles, was sie sagte, wie Poesie klang. Einmal hatte er sie seine wüstesten Armeesprüche aufsagen lassen, nur um zu hören, wie die Worte ihre ursprüngliche Reinheit zurückgewannen. Sie sagte etwas und legte ihm die Hand auf den Arm. Ihr Griff war stark und fest. Wenn sie wütend oder erregt war, bekam sie rote Flecken im Gesicht. Sie hatte jetzt rote Flecken im Gesicht.
    Hinter dem Stuhl hatte ein Hut gelegen, Earls Hut. Kein flacher Porkpie – einen solchen hatte er erwartet –, sondern ein ordentlicher breitkrempiger Filzfedora. Das war der Hut, wie Earl ihn trug. Und das war der Stuhl, auf dem er saß. Das war sein Pult, das seine Frau. Toms Lippen bewegten sich, aus seinem Mund kamen Töne.
    »O Tommy«, sagte sie, und er wollte glauben, dass er Freundlichkeit in ihrer Stimme wahrnahm, nicht Mitleid. »Was soll ich mit dir nur machen?«
    »Einen Foxtrott tanzen?«
    Sie nahm die Hand von seinem Arm. »Ich sollte mal lieber anrufen.«
    »Du hast mich nie besucht.«
    »Man sagte mir, es sei besser so.«
    »Wärst du gekommen, wenn ich dich darum gebeten hätte?«
    »Nein. Nein.«
    Tom nickte. Er erinnerte sich, wie sie für ihn irgendwo auf einem schwarz schimmernden verstimmten Klavier »Autumn in New York« gespielt hatte.
    »Nein, Tom. Ich werde dich nicht besuchen.«
    »Hab schon verstanden, Harry.« Warum war er hergekommen? Was sollte das hier? Er brauchte Informationen. Er musste gehen, bevor er sich selbst verlor. »Earl ist fort. Du hältst mich für verrückt, gut – aber er ist trotzdem verschwunden.«
    »Nur weil du es glaubst«, sagte sie mit sanftmütiger, klarer

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