Alias XX
er nur zu gern bereit, sich in anderen Dingen auf ihre Diskretion zu verlassen.
Vor allem in weiblichen Angelegenheiten, in welchem Bereich sie inoffiziell mittlerweile die Stellung des leitenden Offiziers einnahm. Es verstand sich von selbst, dass sie Agentinnen in jene Dinge einwies, über die männliche Ausbilder lieber nicht redeten, jene Dinge, von denen sie lieber nichts wissen wollten.
Daneben unterhielt sie, schon eher Teil ihres offiziellen Aufgabenfelds, Akten über die Bestimmungen, die das Alltagsleben in fünf europäischen Ländern regelten – über Reisebeschränkungen, Ausgangssperren, Lebensmittelrationen, Ausweisdokumente. Akten über Mode, Musik, Essen, Umgangssprache. Dinge, über die man kaum nachdachte, die man aber wissen musste: Wann man sich für Brot- oder Tabakmarken anzustellen hatte, an welchen Tagen in den Cafés kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Sie hatte ihre kleinen Schätze: Busfahrscheine, Quittungen, Streichholzbriefchen, Zeitungsausschnitte, Fotos von vermeintlichen Verwandten. Es war ihre Pflicht, sicherzustellen, dass in den Besitztümern ihrer Agentinnen alles Englische getilgt wurde – keine englischen Münzen oder Zigaretten, kein englischer Schmuck. Sie überprüfte jede Bluse, jedes Uhrarmband und kontrollierte sogar den Haarschnitt und die Tischmanieren. Von zurückkehrenden Agenten und Flüchtlingen, aus Zeitungen und Untergrundpublikationen sammelte sie Gerüchte und Informationsfetzen. Es gehörte zu ihrer – ebenfalls
inoffiziellen – Aufgabe, Empfehlungen auszusprechen, welche Frauen als Funker oder als Kurier oder, was so gut wie nie vorkam, als Instrukteur ins Feld geschickt werden sollten. Frauen arbeiteten fast immer als Kuriere – sie waren weniger verdächtig als junge Männer, die dem Militärdienst
unterstanden –, selten jedoch als Instrukteure. Aber es gab keine festen Regeln: Das war die oberste Regel bei verdeckten Aktionen.
Sie war es, die die bereits im voraus verfassten Briefe und Postkarten an die Familien aufgab; sie war es auch, die die Testamente aufsetzte und ihnen zum Abschied nachwinkte. Sie schnitt eine Hand voll Beeren vom Christdorn ab. Fast alles erledigt. Sie sollte noch die Umrandung ausstechen, sie hätte es nötig. Vielleicht war ja noch Zeit, um … Abrupt hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie hatte etwas im Haus gehört – nicht das Schlagen einer Tür oder fließendes Wasser. Nein, es musste von der Straße gekommen sein. Hatte sie die Eingangstür abgesperrt? Sie konnte sich nicht erinnern. Der Haushalt gehörte nicht unbedingt zu ihren Stärken – sie war erzogen worden, um eine Haushälterin anzuleiten, nicht um einen Haushalt zu führen.
Wieder hörte sie ein Klappern, diesmal kam es eindeutig von drinnen. Sie sah zum Korb mit den Beeren und versuchte ihre Freude in Zaum zu halten. Earl, der endlich nach Hause kam. Er würde seinen Mantel über das Treppengeländer werfen, wofür sie ihn lachend schelten würde. Er würde sie, ganz außer Atem, küssen und mit den Händen über ihre Hüften streichen hinab zum Hintern. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und spürte, wie sie sich dabei Dreck ins Gesicht schmierte. Na wunderbar. Sie musste schrecklich aussehen, zerzaust und verdreckt, Rock und Bluse völlig ruiniert. Kaum im angemessenen Zustand, um ihren stürmischen Gatten willkommen zu heißen. Aber das war sie selten.
Sie hielt sich selbst nicht unbedingt für schön – denn das war sie nicht –, glaubte aber dennoch, vielleicht nicht ganz unattraktiv zu sein. Außerdem bildete sie sich ein, dass ihr, wie dies bei attraktiven Frauen oft der Fall war, das Alter zugute käme und sie mit fünfzig begehrenswerter aussehe als mit dreißig. Earl, der dies wusste, hatte daraufhin nur gelacht und sie dann als sein »hübsches Mädchen« bezeichnet. Trotzdem gab es Situationen, in denen sie sich etwas mehr Schönheit gewünscht hätte, und eine romantische Heimkehr wie diese war ein solcher Moment.
Sie schlüpfte durch die Gartentür zum Ausguss und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es war allerhöchste Zeit, dass er nach Hause kam.
Sie hatte ihn seit vergangener Woche vermisst, als sie nach Ashwell gerufen wurde, um mit den Mädchen in der Kryptoabteilung einige dringende Angelegenheiten zu besprechen. Zu ihren Aufgaben gehörte es nämlich auch, Gedichte für Agenten zu verfassen, da im Einsatz Nachrichten mit Hilfe auswendig gelernter Gedichtcodes verschlüsselt wurden. Neue, originelle Verse
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