Alias XX
ich … es sei Earl.«
Imogene klimperte mit den Wimpern. »Der hinreißende Wall. Den würde ich jederzeit in meinen Luftschutzbunker lassen.«
»Aber er war es nicht.«
Ihm fehlte Earls rosige Gesichtsfarbe, die von gesunder Wohlgenährtheit zeugte. Ihm fehlte die ungehobelte körperliche Ausstrahlung, die Audrey – für einige Zeit – so anziehend gefunden hatte. Und die bei den Annes, Peggy und Winnie für nachhaltigen Eindruck gesorgt hatte. Ihm fehlte der strenge, heroische Gesichtsausdruck. Man musste ihm nur einen Helm und ein Pferd verpassen, und Earl könnte Sir Galahad sein. Aber es mangelte ihm an Feingefühl. Zumindest was Frauen anbelangte. Bei Frauen … na ja, da war er so feinsinnig wie englische Landjunker, die bei den Fuchsjagden ihren Hunden »Hussa!« zubrüllten. Sie lächelte. Genau das hätte ihre Mum auch gesagt: »So feinsinnig, als würde man ›Hussa‹ brüllen.« Vielleicht lachte sie auch.
»Das war jetzt ein furchteinflößendes Lachen«, feixte Anne, die sich auf ihrem Stuhl die Strümpfe nach unten rollte.
»Klingt wie eine Heinkel mit Motorschaden.«
Es war keine Zeit mehr zum Herumalbern – in zwei Minuten würden sie auf der Bühne sein, angeleuchtet von grellen Scheinwerfern, in deren Hitze sie schmorten. Sie ließen ihre Morgenmäntel zu Boden gleiten und griffen sich die Requisiten. Ihre Schatten tanzten über den schweren schwarzen Vorhang. Mit einer Hand stützte Audrey einen Krug auf der Hüfte auf, während sie die andere über den Kopf hob. Rodolfo klatschte in die Hände. »Ein Seraglio, keinen Rangierbahnhof. Imogene – mehr zurücklehnen, lockerer … ja! Annabel, nicht so viel … Gut.« Blinzelnd betrachtete er ihre Silhouetten. »Die Pose, Hester – kerzengerade! Se-ra-gli-o! Kinn nach oben, Vee.«
»Kerzengerade« bedeutete »den Hintern rausgestreckt«, und »Kinn nach oben« bedeutete »volle Kraft voraus«. Trotzdem, es war ein harmloser Spaß, oder? Audreys Mum hätte wohl zugestimmt. Es waren nur Dads unerschütterliche Werte, die ihr, manchmal zumindest, Kopfzerbrechen bereiteten.
»Wo ist Winnie?«, beklagte sich Rodolfo und trat von der Bühne. »Der Schirm, was hat sie mit dem Schirm
angestellt …?«
George, der Klavierspieler, hatte eine wunderbare Bassstimme, die nun auf der Bühne ertönte: »Aus dem Fernen Osten, hinter den Bergen Siams, jenseits der Flüsse des Mittleren Königreichs.« Einige Takte auf dem Klavier. »›In Xanadu ließ Kublai Khan ein stattliches Lustschloss errichten.‹ Das Waterfall-Theater präsentiert ein Tableau vivant …«
Der Vorhang hob sich, das Publikum applaudierte – ein oder zwei pfiffen –, und die Mädchen verharrten vollkommen reglos. Audrey kam es immer ein wenig unwirklich vor. Die Scheinwerfer hinter ihnen waren direkt auf die Gäste gerichtet, die sie deutlicher sehen konnte als diese sie – die eleganten Männer, die höchstens einmal kurz zur Bühne sahen, die Jungen, die ihren Blick nicht abwenden konnten. Die nervösen Männer, die Witze rissen, und die Einsamen, die tranken, die derben Männer, die faszinierenden Männer … Wo war er? Dort, an der Bar. Sein Anzug war gut geschnitten, saß aber schlecht. Er bewegte sich wie Earl; er saß und er trank wie er. Aber seine Augen waren dunkler und tiefgründiger als die von Earl.
Audreys Schulter schmerzte. Wurde allmählich Zeit, dass Winnie mit dem »Schirm« – einer Bretterwand auf Rädern – über die Bühne fuhr. Dabei würde jedes Mädchen eine neue Pose einnehmen, verborgen vor den Augen des Publikums, das höchstens noch ein nachwirkendes Wackeln wahrnahm. Der Mann, der nicht Earl war, zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht war schmal. Wäre er besser gekleidet, besser frisiert gewesen, hätte er etwas von Byron an sich gehabt. Jetzt sah er nur kaputt aus, ein kaputter Earl. Audreys Ernüchterung gegenüber Earl hatte mit seiner Makellosigkeit zu tun. Er war so vollkommen, nahezu unberührbar. Das machte ihn für Frauen uninteressant; zumindest für sie war er damit uninteressant. Aber der Mann, der nicht Earl war … er wirkte in seinem Anzug beinahe nackt. Fast hätte sie laut aufgelacht. Wenn er nackt war, wie sollte man dann ihren Zustand bezeichnen? Sie lächelte in seine Richtung. Manchmal kam es ihr vor, als wollte das Leben ihr eine Lektion erteilen, eine Lektion über Vorsicht und Voraussicht. Das Leben gab ihr kleine Geschenke und schnappte sie ihr dann wieder weg. Gut, das Leben konnte sie mal. Sie war die Tochter
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