Alias XX
Bursche … «
Tom schaffte es über den Platz, ohne gegen irgendwelche Gesetze zu verstoßen. Unter einer Markise blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Das Glühen reichte aus, damit er das Schild entziffern konnte: TUDOR’S DRY CLEANING AND PRESSING. Tom überprüfte die Tür nebenan – ein Kino. Und dazwischen befand sich der Eingang zu einer schmalen Gasse. In ihrer Mitte, unter einer abgeschirmten Lampe, erkannte er hinter einem Wall aus Sandsäcken eine Doppeltür. Auf einer Kreidetafel war ein halbes Dutzend Namen
aufgeführt – die der Künstler –, und auf einem diskreten Schild stand zu lesen: THE WATERFALL. Tom öffnete die Tür und trat in das ausladende Foyer mit seiner hohen Decke, elfenbeinfarbenen Wänden und einem rot-goldenen Teppich, der zu einem breiten Aufgang zehn Meter vor ihm führte. Gedämpft hörte er ein Klavier und Stimmengemurmel. An der linken Wand befanden sich zwei geschlossene Türen, rechts von ihm eine schmale, nach unten führende Treppe, die mit einer dünnen Kette abgesperrt war.
Neben ihm, halb hinter einem auf Hochglanz polierten Holzpodest, stand ein Türsteher. »Sind Sie Mitglied, Sir? Andernfalls müsste ich Eintritt verlangen.«
»Earl Wall«, sagte Tom. »Ich bin sein Gast.«
»Haben Sie eine Einladung?«
»Er erwartet mich«, sagte Tom. »Ich bin sein Bruder.«
Der Türsteher ließ kurz seinen Blick über Tom schweifen.
»Entschuldigen Sie. Ich habe die Ähnlichkeit nicht gleich erkannt. Wie geht es Mr. Wall?«
»Sagen Sie mir nicht, dass er nicht unten ist!«
»Wir haben ihn seit einigen Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Er sagte, er sei hier.«
»Es passt so gar nicht zu Mr. Wall, einen Termin zu versäumen.« Der Türsteher strich über die Goldlitze an seinem Jackett. »Vielleicht weiß Flight Lieutenant Inch mehr …«
»Inch?«
»Inch Rivere von der RAF. Sie teilen sich oft einen Tisch. Er ist hier.«
Tom dankte dem Türsteher und gab Mantel und Hut an der Garderobe ab. Über die Stufen gelangte er unten zu einem Treppenabsatz, der sich zu einem schmalen Rang weitete. Eine Reihe leinengedeckter Tische folgte der Messingbalustrade halbkreisförmig um den darunterliegenden Raum. Die Hälfte der Tische war besetzt – Männer in Uniformen oder dunklen Anzügen, dazu junge Frauen in samtenen Bridge-Jacken und Seidenkleidern, die ermutigend raschelten, wenn sie sich um die schlanken Knöchel legten. Tom ging am Rang vorbei nach unten aufs Parkett. Bis auf die hohen gewölbten, elfenbeinfarbenen Wände bestand alles aus dunklem Holz und Messing. Die Tische um die Tanzfläche waren mit Silberbesteck und ebenso schneeweißem Leinen gedeckt wie auf dem Rang. Die Gäste waren fast ausschließlich Männer, nur hin und wieder verwies ein Farbtupfer auf eine Frau, ähnlich dem Blumensträußchen am Frack eines Bestattungsunternehmers. Diese Frauen trennte mehr als eine Stufe von ihren Schwestern auf dem Rang – hier saßen die eleganten Mädchen aus der neureichen Oberschicht, solche, mit denen nicht zu spaßen war, und andere, mit denen dies durchaus möglich schien. Es gab eine große Mahagoni-Bar mit einem großen Spiegel und einem großen Barkeeper, der ein Kinn hatte wie eine Schaufel. Ein Dutzend Mädchen servierte Speisen und Getränke, sie trugen weiße Handschuhe und Kleider, die als vollständige Abendgarderobe hätten durchgehen können – wenn Mata Hari die Kleiderkontrolle vorgenommen hätte. Daneben Zigarettenmädchen, die weniger trugen. Eine der Bedienungen schwebte mit einem Speisentablett vorüber. Sie hatte das Gesicht eines ungezogenen Kindes und den Körper eines Vamps. Eine schwarze Haarsträhne hatte sich hinter ihrem Ohr hervorgeschlichen, liebkoste ihren Hals und ringelte sich weiter zu ihrem Dekolleté. Tom erhaschte den Geruch von gegrilltem Fisch, von gebratenem Hammel und einen dritten feineren, blumigen und leichteren Duft. Er spürte, wie er wieder Hunger bekam, und sah dem Mädchen nach. Sie warf ihm über die nackte Schulter einen herablassenden Blick zu und schwang lässig die Hüfte – in ihrem Blick allerdings lag eine burschikose Unschuld. Vielleicht aber hatte er auch einfach schon zu lange nichts mehr mit Frauen zu tun gehabt. Er drückte seine Kippe im Aschenbecher am Fuß der Treppe aus. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine breite Bühne mit einem abgesetzten Podest, auf dem ein dicker Mann auf einem Flügel spielte und zur richtigen Zeit die richtigen Tasten anschlug. Neben
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