Alias XX
ertönte eine Kinderstimme – ein Junge, ein ganz lieber Junge, nicht älter als zwölf, der sich wie ein wahrer Raufbold aufführte. »Sie gehört mir. Gib her !«
»Nein!«, sagte ein Mädchen, das etwas jünger war, aber ebenso liebenswürdig aussah. Ihr fehlten zwei Vorderzähne, und sie hielt mit aller Macht eine Orange umklammert.
»Hör auf damit, oder ich werde …«
Als Abendammer ihre Fahrradklingel ertönen ließ, verstummte sie.
»Na, ihr Blagen!«, sagte Abendammer. »Ihr solltet doch wissen, dass man sich bei diesem Wetter nicht draußen aufhält. Wo wohnt ihr denn?«
Sie sahen auf ihre schwarzen, abgewetzten Schuhe und die auf die Knöchel gerutschten, farblosen Socken. Der Junge murmelte etwas, was nicht zu verstehen war, das Mädchen spähte unter dem fransigen Pony zu ihr hoch. Ein Windstoß trug den Geruch von Brandbomben und Ziegelstaub herüber. Zwei Flugzeuge dröhnten über ihnen, massive Lichtkegel tasteten sich durch den vorüberwehenden Dunst.
»Deutsche Flugzeuge«, sagte Abendammer. »Da spielt man nicht draußen.«
»Die blöden Jerrys«, sagte der Junge. »Die treffen noch nicht mal ’ne Scheune, wenn sie mittendrin stehen.«
»Kommt mit.« Sie versuchte sich am ernsten Ton einer Gouvernante. »Zwei Straßenzüge weiter ist ein Schutzraum.«
»Mag nicht in die U-Bahn«, sagte der Junge.
»Na, wenn die U-Bahn-Schächte für euch nicht gut genug sind«, sagte Abendammer, »wo ist dann eure Mutter?«
Die Kinder murmelten etwas und traten von einem Fuß auf den anderen.
Diese verzogenen Gören. »Na ja, in der U-Bahn stinkt’s ja auch wirklich.« In der U-Bahn gab es noch dazu Mücken und Läuse und massenweise schwitzende Untermenschen.
Abendammer schauderte. »Das können wir euch auf keinen Fall zumuten! Kommt. Die Luftschutzwarte werden euch …«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Will nicht zu denen.«
»Stinken die Luftschutzwarte auch?«, fragte Abendammer. »Na, womöglich miefe sogar ich?«
»Sie nicht, Miss«, sagte der Junge. »Sie riechen gut.«
»Na, und das aus Kindermund!« Sie hielt dem Mädchen die Hand hin. »Wir werden für euch schon ein hübsches, kleines, kuscheliges Plätzchen finden.«
»Aber keinen Oschu«, sagte das Mädchen, das sich an ihre Hand klammerte. »George will immer in die Oschus.«
»Und was bitte schön ist ein Oschu ?«,fragte Abendammer.
»Das wissen Sie doch«, sagte das Mädchen. »Aus Ziegeln.«
»Ach! Ein oberirdischer Schutzraum.« Ziegelbauten in der Größe eines Busses mit einer Betondecke und einer Tür an jedem Ende, die durch einen Schutzwall gesichert war. Sie waren ganz offensichtlich so konstruiert, dass sie bei der geringsten Erschütterung in sich zusammenfielen.
»In seiner Schule«, sagte das Mädchen. »Da stellen sich die Mädchen zum Mittagessen auf die eine und die Jungen auf die andere Seite. Dann gehen sie durch den Oschu und knutschen sich der Reihe nach ab.«
Abendammer drückte dem Mädchen die Hand. »Keine Sorge, Liebes. Ich kenne einen Ort, in dem es nach Rosen duftet und Knutschen nicht erlaubt ist.«
»Nein, kein Zweifel, es ist Melville«, sagte Davies-Frank. »Wird zu den Bombenopfern gerechnet.«
»Waren letzte Nacht noch nicht mal ein Dutzend Flugzeuge.« Highcastle saß auf dem Fahrersitz des geparkten Wagens und kaute auf seiner kalten Zigarre. »Noch nicht mal ein halbes Dutzend.«
»Er hat Verletzungen am Kopf, eine Gehirnerschütterung, Quetschungen am Hals …«
»Fingerabdrücke?«
»Keine Fingerabdrücke. Keine Wunden, die darauf hindeuten, dass er sich gewehrt hätte, keine Verbrennungen, seine Kleidung ist nicht beschädigt. Fiel vielleicht auf eine Rohrleitung. Jedenfalls ist ihm keine Bombe auf den Kopf gefallen.« Schwach waren durch das heruntergekurbelte Fenster Explosionen zu hören – in dieser Nacht waren es weit mehr als ein Dutzend Flugzeuge. »Nicht so wie uns.«
Highcastle grunzte. Davies-Frank klopfte auf den weißen Regenschirm, den er auf dem Schoß hatte. Der arme, furchtsame Mr. Melville. Stolperte in eine von Bomben zerstörte Häuserzeile und blieb mit der Zehe im Schutt hängen. Es kam häufiger vor – zerbombte Gebiete waren gefährlich. Wie die Queen’s Hall, wo das zweite Treffen mit Abendammer stattfinden sollte. Davies-Frank hatte einen Blick hineingeworfen. Umrahmt von den einsturzgefährdeten Außenmauern, war der Querschnitt des Gebäudes zu erkennen – dort der zweite Stock, dort der erste, dort das feuchte Erdgeschoss, das durch ein
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