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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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Hilfskräfte über einen Schutthügel. Dünne, nach Fischöl riechende Rauchschwaden zogen vorüber, und über das Getöse hinweg waren die schrillen Schmerzensschreie einer Frau zu hören.
    Eine rußverschmierte Frau – in der Uniform der First Aid Nursing Yeomanry oder der Women’s Auxiliary Ferrying Squadron – sagte Tom, man würde bereits seit Stunden graben. Die schreiende Frau befinde sich in einem drei Meter tiefen Schacht. Ihren Kopf hätten sie freibekommen, sonst aber steckte sie noch in den Trümmern fest. Neben ihr sei auch ein Mann gewesen, der allerdings vor einiger Zeit verstummt war.
    »Wäre ihr ebenso ergangen«, sagte die Frau, »wenn nicht ihr Hund gewesen wäre.«
    »Sie wäre auch verstummt?«
    »Der kleine Köter hat nach ihr gebuddelt, als die ersten Mauern einstürzten«, sagte sie. »Er stand genau über ihr, als das Dach herunterkam. Hat ihr wohl das Leben gerettet.«
    »Ein Scheißjob, der beste Freund des Menschen zu sein«, sagte Tom. Dann sackte die Wand in sich zusammen, und die Schreie der Frau brachen ab.
    Die Rettungsmannschaften hielten kurz inne, dann machten sie sich wieder an die Arbeit.
     
    Zehn Uhr. Davies-Frank strich sich mit der Hand durchs Haar, wischte eine Ascheflocke vom Ärmelaufschlag und hätte fast gelächelt. Er benahm sich ja kindisch. Es gab keinerlei Grund, nervös zu werden, schon gar nicht wegen eingebildeter Asche auf seinem grauen Cheviot, und das nach Sonnenuntergang. In zwei Stunden würde er bei Joan und den Zwillingen sein. Er würde leise in das Zimmer der Mädchen treten, ihre süßen, schlafenden Gesichter betrachten und spüren, wie ihm das Herz aufging. Er sah auf die Uhr. Vier Minuten nach der vollen Stunde. Er tippte mit der Regenschirmspitze seitlich gegen den Schuh. In der Straße war es ruhig, obwohl am anderen Ende der Stadt die Bomber und Nachtjäger am Himmel ihre Schlacht schlugen.
    Acht nach zehn. Ein älterer Mann kam torkelnd aus einer Seitenstraße. Warum war ein Mann seines Alters in einer Bombennacht noch unterwegs? Wahrscheinlich hatte er hiermit nichts zu schaffen. Oder er war Abendammer. Davies-Frank blieb gelassen, der Ältere ging vorüber, eine Alkoholfahne folgte ihm.
    Beiläufig schwang Davies-Frank den Regenschirm in einem Halbkreis und ließ ihn gegen die linke Schulter prallen – womit er Highcastles Männern signalisierte, den Mann zur Befragung anzuhalten.
    Dreizehn Minuten nach zehn. Hell stand der Mond am Himmel, immer wieder waren gedämpft Explosionen zu hören, in der Ferne das Rattern der Flugabwehrbatterien. Wind kam auf, Ladenschilder begannen hin und her zu schwanken und knarrten an ihren Ketten.
    »Hier, Mister!« Etwas zerrte an seinem Ärmel.
    »Großer Gott!« Beinahe hätte er dem pausbäckigen kleinen Mädchen mit dem Schirm aus dem Reflex heraus einen Schlag verpasst. »Hast du mich erschreckt! Hast du deine Mum verloren?«
    »Ich hab eine Botschaft.« Sie sah zum Schirm, der geisterhaft weiß in der Dunkelheit schimmerte. »Für Sie.«
    Munter schwang er den Schirm über die rechte Schulter.
    »Eine Botschaft? Nun, na ja – ist es ein singendes Telegramm?«
    Sie sah ihn fragend an. »Nein.«
    »Schade. Ich hab mir immer schon mal ein singendes Telegramm gewünscht. Weißt du, was das ist?«
    »Die Botschaft lautet, dass Sie mitkommen und mir folgen sollen.«
    »Der Gentleman«, sagte er, »der solch einer reizenden Einladung widerstehen könnte, ist noch nicht geboren.«
    Sie eilte von der Queen’s Hall fort, und er sah keine andere Möglichkeit, als ihr zu folgen. Abendammer war wichtig. Das Zwanziger-Komitee war wichtig. Trotzdem, was zum Teufel sollte er mit diesem Kind hier? Langsam setzte er sich in Bewegung, damit Highcastle Zeit gewann, um reagieren zu können. Es wäre einfach zu schäbig, wenn Abendammer ein Kind als Kontakt benutzte …
    Aber seine Nervosität war plötzlich wie weggeblasen. Seine Angst hatte sich verflüchtigt, die nächtliche Luft wärmte ihn. Jedes aktive Handeln – sogar das hier – war ein willkommenes Gegengift zur Sisyphusarbeit der Strategieplanung. Viel zu lang war er an seinen Schreibtisch gefesselt und mit den mühsamen Vorbereitungen beschäftigt gewesen. Es war ganz einfach: Dem Zwanziger-Komitee hatte sich alles unterzuordnen. Was hatte er schon zu befürchten? Sondegger mochte schlauer sein als er, aber er würde es nie und nimmer schaffen, ihn kleinzukriegen. Morgen würde er in Hennessey Gate durch den Gang schreiten und ohne die geringste Angst die

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