Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
Vom Netzwerk:
weiße Tür aufreißen. Er würde Sondegger in die Augen schauen und ihn seine Verachtung spüren lassen, Verachtung und Befriedigung über die gute Arbeit, die heute Nacht geleistet wurde.
    »Wie sah denn der Mann aus, der dir die Botschaft gegeben hat?«, fragte er das Mädchen. »War er dünn oder dick? Größer als ich?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Kleiner als du?«, fragte er und versuchte sie zu umgarnen.
    »Das darf ich nicht sagen.«
    »Wirst du es mir sagen, wenn ich dir eine halbe Krone gebe?«
    Sie bogen in eine schmale Straße ein, und sie rieb sich die Nase und ließ sich das Angebot durch den Kopf gehen.
    »Muss ich das mit George teilen?«
    »George, ist das der dünne Kerl mit der Botschaft?«
    »Er ist mein Bruder. Er hält sich für ganz schlau.«
    »Eine halbe Krone für dich, eine halbe Krone für George.«
    » Sie sagt, sie gibt jedem von uns eine Krone.«
    Also eine Frau. »Hat sie braunes Haar? Ist sie blond? Ist sie …«
    »Sie sagt, in der U-Bahn stinkt es fürchterlich. Sie lädt uns morgen zum Tee ein – mit Kuchen und Orangen. Da ist George.«
    Sie hob ihre pummelige Hand. Auf der anderen Straßenseite, neben einem Zeitungskiosk, stand ein Junge breitbeinig über dem Vorderreifen eines Fahrrads. Als sie näher kamen, klingelte er.
    »Na, George«, sagte Davies-Frank. »Ich hab gehört, du hast eine Botschaft für mich.«
    »Ja, Sir.« Der Junge patschte auf einen Ledermantel im Fahrradkorb. »Es ist da drunter …«
     
    Tom las einen Anschlag in einem Schaufenster – KEINE SCHOKOLADE, KEIN SACHARIN – und sah Flammen über die Dächer schlagen, weiter unten in der Straße explodierte eine 500-kg-Bombe. Er warf sich auf den Boden und griff nach seiner Waffe, während eine Lawine aus Glas und Staub über ihn hinwegfegte.
    »Reggie?« Eine Frau in einem weißen Nachthemd taumelte vorbei und hielt sich den Ellbogen. »Reggie?«
    »Auf den Boden!«, schrie er. »Werfen Sie sich verdammt noch mal auf den Boden!«
    Hinter der Frau teilte sich die aufgewirbelte Luft wie ein Vorhang und gab den Blick auf einen schlaksigen Mann mit sandfarbenem Haar frei, der lässig mitten auf der Straße stand. Er hatte kein Gewehr, keinen Helm … Der Feuerschein huschte über sein Gesicht. Earl.
    Tom versuchte nach seinem Colt zu greifen. Earl war da, keine zwanzig Meter vor ihm. Er packte ein Metallrohr, einen Wasserhahn, an dem noch ein Stück Kupferleitung hing. Er war nass und kalt und schwer genug, um als Knüppel herzuhalten. Er sprang über den Schutt, konnte in den diesigen Schwaden aber keine zehn Meter weit sehen. Earl war fort … Nein, dort – zwischen der Feuerwehrpumpe und der Wand. Hinter den brüllenden Männern unter ihren Stahlhelmen.
    Tom rannte über Feuerwehrschläuche, die sich wie fette Würmer durch das Geröll wanden. Earl huschte davon. Tom lief hinterher, vorbei an einem alten Mann, der vor einem brennenden Textilgeschäft weinte. Immer wieder sah er kurz seinen Bruder, der zu weit weg war – eine verschwommene Gestalt, die sich mit Earls unverwechselbarer Leichtigkeit bewegte. Vorbei an einem Jugendlichen, der aus einem auseinandergebrochenen Spalier eine Stange wegtrug, vorbei an zwei toten Katzen, die auf einem umgeworfenen Schrank lagen.
    Geisterhaft glitt Earl in die Schatten und war verschwunden. Tom schrie. »Earl! Ich bin’s!« Keine Antwort, nur das Krachen der Bomben und das Tosen des Feuers. »Ich bin’s, Tom, dein Bruder.«
    Dort, wo Earl verschwunden war, stand eine Backsteinmauer. Er war nirgends zu sehen. Tom fuhr sich über das Gesicht. Ich bin’s, Tom, dein Bruder. Erinnerst du dich an die Sommer in Maine, als du mir gezeigt hast, wie man einen Wurm an den Haken steckt? Erinnerst du dich, wie du mir durchs Haar gestrichen und gesagt hast, dass man das Rennen gewinnt, wenn man nur langsam und stetig voranschreitet? Erinnerst du dich an die Jazz-Clubs, die Tanzhallen, die vollen, verrauchten Bars?
    Er ließ das Kupferrohr fallen. Earl war verschwunden. Er schleppte sich durch die Dunkelheit in Richtung Waterfall. Es gab keinen anderen Ort, an den er konnte. Fast konnte er spüren, wie sich ihm der Gewehrriemen in die Schulter schnitt, fast roch er die kretische Nacht, sah die Fallschirme, die sich über ihm wie entzündete Wunden öffneten. Fast hörte er in einer plötzlichen Windstille eine Melodie, die er kannte, ein gemurmeltes Kirchenlied. Es war der vor sich hin schlurfende Trödler mit dem zerlumpten Karren und dem zerzausten Bart und den gelben

Weitere Kostenlose Bücher