Alias XX
Mine baumelte an einem Ast, fünfzehn Zentimeter über dem Erdboden. Sanft schwang sie im Wind hin und her. Fünfzehn Zentimeter, und sie würde hochgehen. Wie aufregend!
Natürlich nützte sie ihr nun überhaupt nicht. Sie war viel zu schwer, sie konnte sie noch nicht einmal anheben und … Fast hätte sie in die Hände geklatscht, als sie zwischen den Rosmarinbüschen die vertrauten Farben entdeckte: den feldgrauen Zylinder mit dem gelben Streifen an der Leitflosse, der von einem roten Streifen gekreuzt wurde. Die Splitterbombe würde sich ganz wunderbar eignen. Die beiden rotierenden Flügel hatten sich beim Abwurf nicht aufgeklappt, der Anschlagstift wurde nicht ausgelöst. Das noch scharfe Bömbchen war ein ganz herrlicher Blindgänger.
Wieder bei ihrem Fahrrad, legte Abendammer ihren grünen Ledermantel über den Zylinder in ihrem Korb und breitete den Pelzkragen darüber. Sie fuhr auf eine Menschenmenge zu, die entsetzt und fasziniert das Feuer betrachtete. Die Zuschauer wurden gebeten, sich zu zerstreuen, also ging auch sie. Sie tat nämlich immer, worum sie gebeten wurde.
22
2. Dezember 1941, Abend
Der holzvertäfelte Salon des Puveen’s Club war von so plüschiger edwardinischer Einrichtung, dass Chilton beinahe meinte, draußen in den nebelverhangenen Londoner Straßen den Schein flackernder Öllampen erkennen zu können.
»Ich habe darauf vertraut«, sagte Chilton, der am offenen Kamin saß, »dass Ihre Neuigkeiten diese Unbequemlichkeiten rechtfertigen. Ich komme nur ungern in die Stadt, selbst wenn keine Nachtangriffe zu erwarten sind.«
Puveen schwenkte seinen Brandy und betrachtete die langsam in die Glut fallenden Holzscheite. »Vertrauen ist unabdingbar.«
»Gleiches gilt für die Kürze.« Chilton erhob sich. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen.«
»Sie sollten mich zu Ende anhören, alter Kumpel.« Puveens rosiges Gesicht glühte vor Selbstzufriedenheit. »Es geht um Familienangelegenheiten.«
»Familienangelegenheiten, das sind Dinge, um die man sich früher einmal gekümmert hat. Ich muss mich um die Dinge kümmern, die jetzt wichtig sind.«
»Sie betreffen Ihren Schwiegersohn. Sein Name tauchte unter sonderbaren Umständen auf.«
Chilton hatte erwartet, dass er seine Zeit verschwendete, als Peevy ihn zu einem Drink einlud – aber dies klang nun doch recht vielversprechend. »Mein Schwiegersohn?«
»Unter sonderbaren Umständen«, sagte Peevy. »Die Geschichte beginnt mit einer Leiche – eines Mannes, der vergangene Nacht in einem Bombentrichter ums Leben gekommen ist.«
»Ich habe gehört, es hätte keine Todesopfer gegeben.«
»Drei Flugzeuge der Luftwaffe, in der Tat die größte Luftstreitmacht in der Geschichte der Menschheit.« Peevys Augen strahlten. »Mir kam schon in den Sinn …«
»Dieser Mann«, sagte Chilton. »Er wurde von einer Bombe getroffen?«
»Keineswegs. Er starb in einem Bombenkrater – ist wohl auf den Trümmern ausgerutscht, oder das Dach ist auf ihn draufgefallen. Kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft so was passiert. Jedenfalls, nachdem Sie mir ja nahe gelegt haben, darauf zu achten, wenn ungewöhnliche Ermittlungen oder Aktivitäten in Gang kommen …«
»Ich weiß, was ich Ihnen nahe gelegt habe.«
»Gut, diesem Mann wurde mehr Beachtung geschenkt, als er verdient gehabt hätte. Ich habe persönliche Nachforschungen angestellt. Sie hielten mich nie für besonders durchtrieben, aber ich habe in meinem Büro einen Brief aufsetzen lassen …« Er brauchte zwanzig Minuten, bis er erklärt hatte, dass der Tote in seiner Weste ein kleines Tagebuch mit sich geführt hatte, das Peevy in sein Büro umleiten konnte. »Hab das Gekritzel selbst nicht lesen können. Kurzschrift, müssen Sie wissen. Aber die Namen in normaler Schrift stachen heraus. Ein Kerl namens ›E. Wall‹ wurde erwähnt. Da hab ich an Sie gedacht.«
»Ist das alles, was Sie entziffern konnten? Wo ist das Tagebuch jetzt?«
»Hab’s zurückgegeben. Würde nichts bringen, wenn ich erwischt werde, wie ich …«
»Das ist also alles, was Sie wissen?«
»So würde ich das nicht sagen!« Peevy fasste in seine Tasche, um einen Zettel herauszuholen. »Auch andere wurden erwähnt, ein ›T. Wall‹ und ein ›Sonder‹. Hat Ihr Schwiegersohn nicht einen Bruder?«
»Was noch?«
»Ein Akronym. Beim ersten Blick hielt ich es für die RAF. Aber es war kein A, sondern ein D. R Defence Force? Keine Ahnung. RDF.«
Der ominöse Rupert Davies-Frank.
Chilton verbrachte eine halbe Stunde
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