Alias XX
aber das sah Earl gleich. Ein Colt Kaliber 25 ACP-Automatik mit Elfenbeingriff und ein Webley-Revolver Kaliber 455: Earl, stellte Tom sich vor, hatte den Kaliber 25 für Harriet gekauft, was er dann mit dem Kaliber 455 für sich überkompensieren musste – er brauchte einen Eineinhalb-Pfünder, eine schwerere, mächtigere Waffe als Harriets Spielzeug, das in seiner Hand einfach verschwinden würde.
Tom schloss die Schublade und beendete die Durchsuchung der oberen Räume. Nichts. Im Gästezimmer nahm er seine Schuhe in die Hand und wartete. Als er wieder Harriets Absätze auf der Treppe hörte, konnten zehn Minuten oder zwei Stunden vergangen sein. Ihre Schlafzimmertür ging auf und zu. Zeit verstrich.
Tom schlich sich nach unten. Fand die Taschenlampe und begann zu suchen.
Kein Tristram Shandy. Kein Meisterwerk der Komik, kein Behältnis der Informationen, die er brauchte. Das von ihm eingeschlagene Fenster war hinter dem Vorhang mit einem Brett zugenagelt worden. Sonst schien alles an seinem Platz zu sein. Seine Enttäuschung verwandelte sich in Wut und verflüchtigte sich daraufhin. Er konnte nicht …
»Tommy?« Sie stand im Flur und sah zu ihm ins Zimmer.
»Harriet! Ich konnte nicht schlafen.«
»Du warst noch nie ein guter Lügner.«
»Nicht bei dir.«
»Es wurde Fliegeralarm gegeben«, sagte sie. »Ich wollte dich wecken.«
Er trat vor, bis er nur noch Zentimeter vor ihr stand. Er würde sie küssen.
»Ein Luftangriff steht bevor«, sagte sie. »Kann jederzeit losgehen.«
Er spürte ihren Atem im Gesicht. Er würde sie küssen. Sie drückte ihm einen Finger auf die Lippen. »Nein, Tommy.« Die Sirene heulte.
»Verdammt«, sagte er.
»Komm, wir haben unter der Treppe einen Luftschutzraum.«
»Keinen Anderson-Bunker?«
»Damit ich meinen kleinen Garten umgraben müsste?«
Er lächelte. Draußen explodierte eine Bombe. Das Wummern der Geschütze war zu hören, Ziegel und Balken kreischten, lautlos schwebten die Lastensegler vom Himmel – Höhe 107 in Máleme, seine Jungs, die inmitten des Korditdunsts Feuerstöße abgaben, Blut auf seinem Gesicht und in seinem Mund, der Geschmack von Blut.
»Tommy«, sagte sie, und er knallte hinter sich die Eingangstür zu.
Abendammer beeilte sich, sie hatte die Augen weit aufgerissen vor gespielter Angst und war über die Lenkstange gebeugt, ein furchtsames Mädchen, das zu seiner Mutter nach Hause eilte.
Sie sah auf die Ausbuchtung des zusammengeknüllten Mantels. Es war alles arrangiert. In mechanischen Dingen war sie einfach eine Idiotin – sie wusste kaum mit einer Haarnadel
umzugehen –, aber sie hatte sich gemerkt, was man ihr beigebracht hatte. Trotzdem brauchte sie noch einen Zündmechanismus, doch dazu wollte ihr partout nichts einfallen. Vielleicht funktionierte die Splitterbombe ja gar nicht. Natürlich konnte sie Buchbinders Instruktionen auf ganz unterschiedliche Weise befolgen, aber es wäre doch jammerschade, wenn sie dieses Geschenk des Himmels einfach vergeuden würde!
Sie zog den Kopf ein, als ein Feuerwehrwagen vorüberfuhr. Der Himmel wurde von dem hinter Rauchwolken stehenden Mond erhellt. Sie unterließ es, mit den Hüften zu schwingen, ihr Gang zeugte von Erschöpfung und Schlichtheit. Ihre Absätze klapperten müde. Hier gab es nichts zu sehen. Sie war gut damit beschäftigt gewesen, Buchbinders Instruktionen auszuführen. Hatte sich mit dem Mann mit der glänzenden Weste getroffen, Tommy Wall ausfindig gemacht und das Treffen heute Abend arrangiert. Außerdem waren ihr und Buchbinder drei Namen genannt worden, denen sie auf den Zahn zu fühlen hatten – drei Agenten, denen die wenig vertrauenswürdige Abwehr vertraute. Nun gut, Buchbinder waren die drei Namen mitgeteilt worden. Sie hatte nur einen: einen Mann, der »Digby« genannt wurde und angeblich die BBC infiltrierte. Sie hatte sich die Uniform eines Schulmädchens gemopst und eine mürrische Schmollmiene aufgesetzt, und niemand bei der BBC hatte über ihre ungeduldigen Fragen auch nur die Augenbrauen gelüpft. Sie hatte Digby ohne Schwierigkeiten aufspüren können.
Ab dem morgigen Tag würde sie ihn richtig observieren. Er schien sich völlig frei bewegen zu können, entweder war er also doch nicht übergelaufen, oder er war komplett umgedreht worden. War es möglich, dass er die Abwehr verraten hatte? Sie würde ihre Schmollschnute ziehen und mal ein Auge auf ihn werfen. Sollte nicht allzu schwer sein. Er war ein Mann, und Männer waren …
»Gib her!« Neben ihr
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