Alias XX
Loch in der Wand sichtbar war. Und dort, am Boden, stand ein Löschwassertank. Über neunzigtausend Liter Wasser für die Feuerwehren. Kinder kletterten zum Schwimmen hinein und ertranken, sie spielten zwischen den Ruinen im Schutt und in den halb verschütteten Kellern. Sie horteten allen möglichen Ramsch, und nichts war so wertvoll wie Blindgänger. Zerbombte Gebiete waren gefährlich, aber Mr. Melville war kein Kind. Über den Schutt gestolpert, von einer einstürzenden Wand erschlagen … aber was hatte er dort überhaupt verloren?
»Zum Plündern?«, sagte Highcastle, als könnte er Davies-Franks Gedanken lesen. »Doch nicht unser Mr. Melville.«
»Einen streunenden Hund einfangen?«
Highcastle grunzte. »Das war kein Unfall.«
»Nein. Ich werde die Leiche Dr. Wheeler zur gerichtsmedizinischen Untersuchung schicken. Illingworth wird Nachforschungen anstellen. Mehr können wir nicht tun.«
»Man kann immer mehr tun.«
Highcastle sah zur mehr oder weniger verlassenen Straße. Davies-Frank folgte dem Blick. Ein Mann mittleren Alters begleitete seinen gebrechlichen Vater über die Straße. Ein Gentleman in Anzug und cremefarbenem Filzhut schlenderte vorüber. Eine junge Mutter führte ihre Kinder den Bürgersteig entlang.
»Fünf vor neun«, sagte Highcastle nach einem Blick auf die Uhr.
»Soll ich los?« Plötzlich war Davies-Frank nervös, obwohl er doch nur mit Abendammer den Kontakt herstellen und dann seinen Männern das Signal geben musste.
»Geduld«, sagte Highcastle. »Bald.«
23
2. Dezember 1941, Nacht
Die Fliegeralarmsirenen verstummten für einen Moment, und hinter sich hörte Tom Hufschläge durch die schmale Straße hallen. Der Himmel wurde vom Mond und dem Widerschein Hunderter Feuer erhellt. Es war schön. Es war schön gewesen auf Kreta. Das Meer, die Berge – und darüber der blaue Himmel.
Hufschläge. Ein geschecktes Pferd, ein elegantes, glänzendes, muskulöses Tier, trottete über eine leere Kreuzung, darauf saß eine Frau. Sie verschwand aus seinem Blickfeld, und nichts blieb zurück außer dem Klappern der Hufe. Schließlich wurde das Geräusch von den Sirenen verschluckt.
Tom sah über sich einen aufheulenden Beaufighter, einen dunklen Fleck vor dem Mond. Er beschrieb einen anmutigen Halbkreis und näherte sich einem deutschen Bomber, dann schob sich eine Rauchwolke davor, und Tom verlor ihn aus den Augen.
Er sah den Rauchschwaden hinterher. Überall in der Stadt loderten Flammen in den verdunkelten Straßen. »Die Funken«, sagte ein glatzköpfiger Mann, der das Gesicht zum Himmel gerichtet hatte, »fühlen sich auf der Haut an wie Schneeflocken.«
In der Farbenfabrik auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam es zu einer Explosion, irgendein leicht brennbarer Stoff musste sich entzündet haben und sandte eine Hitzewelle wie in einem Hochofen aus. Tom lief der Schweiß übers Gesicht, sein Hemd war klatschnass. Die hochschlagenden Flammen fraßen sich durch das Gebäude, Farbdosen platzten und schossen wie Silvesterraketen in den Himmel.
»Hatte Spätschicht, als der Angriff losging«, sagte der Glatzköpfige. »Bin also nach unten, und da auf seinem Stuhl sitzt der alte Sandy, so ruhig wie immer. Ich klopf ihm auf die Schulter …« Drei Leuchtkugeln schossen aus der Fabrik.
»Auf der einen Seite im Gesicht war ihm kein Härchen gekrümmt, die andere aber«, sagte der Glatzköpfige, »war schwarz wie Kohle.«
Ein Taubenschwarm kreiste über ihnen, angezogen von den Flammen oder der Wärme. Tom betrachtete die Vögel und spürte Schneeflocken auf sein Gesicht fallen. Feuerwehrwagen trafen ein. Der Schwall aus den Wasserschläuchen mischte sich mit den Flammen. Einer der Feuerwehrleute brüllte, dass Mechaniker in den Gruben unter den Lieferwagen gefangen seien. »Fahrt die Wagen raus!«, brüllte er. »Schafft die gottverdammten Wagen raus!«
»Sollen wir?«, sagte der Glatzköpfige. Spritzwasser trommelte auf sie ein, dann saßen sie hinter dem Steuer zweier nebeneinanderstehender Laster. Es herrschte unerträglicher Lärm, Metall verbog sich unter der Hitze, sie brannte Tom im Gesicht. Sie fuhren auf die Straße hinaus, wo Tom den Glatzköpfigen aus den Augen verlor. Auf dem Bürgersteig brach er zusammen und beobachtete die irisierenden Lachen aus Klarlack, an denen blaue Flammen züngelten.
Stunden später stand Tom unter einem Laternenmast, der sich unter der Hitze verbogen hatte und sich nun zum Boden neigte. An der Ecke schwärmten Sanitäter und
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