Alibi für einen König
beinah gleichgültigen Ton des Briefes, den Richard tatsächlich über Jane Shore geschrieben hatte, war verblüffend.
So wahr mir Gott helfe, dachte Grant wieder, wenn ich zwischen dem Mann, der diesen Bericht, und dem Mann, der diesen Brief geschrieben hat, wählen müßte, dann würde ich mich für den Briefschreiber entscheiden, ganz gleich, was die beiden sonst noch getan haben mochten.
Der Gedanke an Morton ließ ihn die Nachforschungen nach den York-Erben verschieben, bis er herausgefunden hatte, was eigentlich aus John Morton geworden war. Nun, da stand zu lesen, daß er, nachdem er seine Mußestunden als Gast Buckinghams dazu benutzt hatte, um eine gemeinsame Unternehmung der Woodvilles und der Lancasters zu organisieren (bei der Heinrich Tudor Schiffe und Truppen aus Frankreich heranschaffen und sich mit Dorset und dem Rest der Woodville-Sippe und allen unzufriedenen Engländern, die sie auftreiben konnten, vereinigen sollte), in seine alten Jagdgründe im Bezirk Ely und von dort auf den Kontinent geflohen war. Und er kam erst wieder im Kielwasser eines Heinrich, der sowohl Bosworth wie eine Krone gewonnen hatte, nach England zurück. Und da befand er sich auf dem Weg nach Canterbury und auf dem Weg zum Kardinalshut und zur Unsterblichkeit.
Den Rest des Abends vergnügte Grant sich damit, in den Geschichtsbüchern nach Erben zu suchen.
Es herrschte kein Mangel an Erben. Eduards fünfe, Georges Sohn und Tochter. Und wenn man diese alle nicht gelten ließ, weil die einen illegitim und die beiden anderen die Kinder eines Geächteten waren, gab es noch eine weitere Möglichkeit: den Knaben von Richards ältester Schwester Elisabeth. Elisabeth war Herzogin von Suffolk, und ihr Sohn war John de la Pole, Graf von Lincoln.
Außerdem gab es in der Familie noch einen Knaben, von dessen Existenz Grant nichts geahnt hatte. Offenkundig war das kränkliche Kind in Middleham nicht der einzige Sohn Richards. Er hatte noch ein Kind der Liebe, einen Knaben namens John. John of Gloucester. Ein Knabe, der keinerlei besonderen Rang bekleidete, aber von Richard anerkannt war und zu seiner Hofhaltung gehörte. Zur damaligen Zeit wurde ein Bastardbalken im Wappen schmerzlos hingenommen, Wilhelm der Eroberer hatte ihn salonfähig gemacht.
Grant machte sich eine kleine Gedächtnishilfe:
EDUARD
ELISABETH
GEORGE
RICHARD
Eduard,
Prinz v. Wales
John de la Pole,
Graf v. Lincoln
Eduard,
Graf v. Warwick
John of
Gloucester
Richard,
Herzog v. York
Margaret, Gräfin
v. Salisbury
Elisabeth
Cicely
Anne
Catherine
Bridget
Diese Liste schrieb er noch einmal für den jungen Carradine ab und überlegte sich dabei, wie wohl jemals ein Mensch auf den Gedanken hatte kommen können, daß die Beseitigung von Eduards beiden Söhnen Richard vor einem Aufstand bewahren würde. Da wimmelte es ja geradezu von Thronerben.
Zum erstenmal wurde ihm klar, daß der Mord an den beiden Prinzen nicht nur völlig sinnlos, sondern geradezu töricht gewesen wäre.
Und wenn Richard von Gloucester etwas ganz bestimmt nicht gewesen war, dann töricht.
Er sah bei Oliphant nach, was der zu diesem offenkundigen Lapsus in der Geschichte zu vermelden hatte.
»Es ist seltsam«, sagte Oliphant, »daß Richard offenbar keinerlei Mitteilung über den Tod der Prinzen herausgegeben hat.«
Es war mehr als seltsam – es war unverständlich.
Hätte Richard die Söhne seines Bruders ermorden wollen, dann hätte er das ganz gewiß sehr viel schlauer angestellt. Dann wären sie angeblich an einer tückischen Krankheit verschieden, und ihre Leichen hätte man öffentlich zur Schau gestellt, wie man es üblicherweise mit königlichen Leichen tut, damit auch alle Menschen sehen konnten, daß sie wirklich aus diesem Leben gegangen waren.
Von keinem Menschen kann man behaupten, er sei unfähig, einen Mord zu begehen. Das wußte Grant nach all den Jahren, die er in Scodand Yard gearbeitet hatte, nur allzu gut. Aber man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, ob ein Mensch einer Dummheit fähig ist oder nicht.
Dennoch hegte Oliphant hinsichtlich des Mordes keinerlei Zweifel. In Oliphants Augen war Richard ein Monstrum. Vielleicht hatte ein Historiker, der ein so weites Feld wie Mittelalter plus Renaissance beackerte, keine Zeit, sich mit Details zu beschäftigen. Oliphant verließ sich auf den geheiligten More, wenngleich er gelegentlich einen Augenblick zögerte, um sich da und dort über eine seltsame Unstimmigkeit zu wundern. Aber er übersah, daß diese seltsamen
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