Alice at Wonderland
Tatort sind, ist schon alles vorbei. Thorben redet sich raus. Die Kleine habe so was wie »Dododo« zu ihm gesagt. Das könne er nicht auf sich sitzen lassen.
»Das sagt sie immer«, versucht Stephan die Situation zu entspannen, der jetzt erst bemerkt, dass das Kind unter der Wippe mit der zerfetzten Mütze seine Tochter ist.
Jetzt bin ich gefordert. Jetzt kann ich zeigen, dass ich eine gute Mutter bin und die Situation im Griff habe.
»Thorben, das war ganz, ganz böse!«, sage ich und schaue Stephan an.
Der allerdings sieht nicht so aus, als habe ihn mein Aus bruch beeindruckt.
»Zur Strafe gehst du eine Woche lang um zehn ins Bett!« So, das sitzt.
»Wie lange darf er denn sonst so aufbleiben?«, fragt Ste phan ungläubig.
»Vielleicht etwas ... länger ... als zehn?!«, sage ich und weiß in dem Moment, dass ich mich ins Abseits manövrie re. »Aber nur am Wochenende, wenn Formel 1 in Malay sia ist«, füge ich hinzu.
Aus der Nummer komme ich so nicht mehr raus. Zu allem Überfluss fängt Thorben-Hendrik nun wieder an, an dem kleinen Mädchen herumzuzerren, das provokativ »dododo« vor sich hin brabbelt.
»Lass das!«, sage ich hilflos, aber der Rotzbengel hört nicht auf.
Und da passiert, was unweigerlich kommen muss. Ein Satz, den ich immer gehasst habe und den mein Vater je des Mal mit diesem unschuldigen Lächeln sagte, schießt mir durch den Kopf: »Hoppla, da ist mir die Hand ausgerutscht!« Doch da ist es auch schon zu spät. Ich verpasse Thorben-Hendrik eine saftige Ohrfeige. Der ist zunächst für einige Sekunden perplex, brüllt dann aber los wie ein Schauspieler, der überspielen will, dass er seinen Text nicht kann.
»Du blöde Ziege! Das sag ich Papa! Der macht dich fer tig!«
Ein Seitenblick zu meinem Spielplatzfreund sagt mir, dass er weit davon entfernt ist, in mir eine gute allein erziehende Mutter zu sehen. Mir bleibt keine Zeit zum Überlegen.
»Dein Vater ist tot«, brülle ich zurück. »Kapier das doch endlich!«
Wenn Thorben-Hendrik bis dahin durch Markus' Er ziehung noch keine psychischen Schäden davongetragen haben sollte, habe ich nun garantiert dafür gesorgt, dass etliche Therapeuten sich mit Thorbens Hilfe neue Villen bauen werden. Er wird kreidebleich und droht in Ohn macht zu fallen.
Der Schock sitzt noch tief, als wir bereits wieder im Auto und auf dem Weg zu seinen Eltern sind. Ich mache mir schwere Vorwürfe. Offensichtlich verstehe ich über haupt nichts von der kindlichen Psyche. Ich erwäge ernst haft, mich von dem Gedanken zu verabschieden, selbst einmal Mutter zu werden. Viele Frauen entscheiden sich für die Karriere und gegen die Familie. Das ist heutzutage überhaupt keine Ausnahme mehr, rede ich mir ein. Au ßerdem sollen postnatale Depressionen ja das Schlimmste sein, was es gib. Und da wären ja auch noch die Schwan gerschaftsstreifen. Und die unansehnliche Abschlaffung meiner Brüste nach dem Stillen. Von 80 C auf 75 A. Nein. Das muss ich mir wirklich nicht antun. Außerdem ist man viel zu eingeschränkt mit Kind. Theater, Kino, Reisen, Orgien ... kann man alles vergessen. Ich muss der Tat sache ins Auge sehen. Ich bin besser dran ohne Kind. Als wir an einer roten Ampel halten müssen, wende ich mich an
Thorben-Hendrik.
»Es tut mir Leid«, sage ich. »Ich hab da echt Mist ge baut, dass ich das von deinem Papa erfunden habe. War mies von mir. Ehrlich. Sorry.«
Thorben schaut mit leeren Augen auf die Ampel. Das rote Licht lässt sein kleines Gesicht noch verstörter ausse hen, und mir rollt eine Träne die Wange herunter.
»20 Euro, wenn du nicht mehr traurig bist«, flüstere ich zaghaft. Endlich dreht er sich langsam zu mir.
»50!«, sagt er.
»30!«, erhöhe ich.
»Dann 40!«
Ich reiche ihm die Hand. Wir sind im Geschäft.
»Grüner wird's nicht!«, brüllt mich Thorben fröhlich an.
Hm, denke ich, möglicherweise verstehe ich von Erzie hung mehr, als ich selbst wahrhaben wollte. Und wer muss schon groß reisen und so ... außerdem gibt es Silikon.
Als wir in die Straße vor Thorbens Elternhaus einbie gen, klingelt mein Handy. Nina ist dran. Es würde noch einen Augenblick dauern, aber wir könnten uns ja am Odeon-Kino treffen. Sie würde so schnell wie möglich dahin kommen, um Thorben abzuholen.
Die nächsten eineinhalb Stunden verbringe ich damit, Thorben-Hendrik zu erklären, warum ich nicht mit ihm in »Matrix Revolutions« gehen werde, obwohl er die ers ten beiden Teile bereits zu Hause auf DVD besitzt und mit seinen Kumpels
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