Alice at Wonderland
gleich darauf ab blitzen lassen und nie wieder ein Wort mit mir geredet. Ich war ganze zwanzig Sekunden mit Boris zusammen, und damit hält er den Negativ-Rekord, was die Dauerhaf tigkeit von Beziehungen angeht. Es ging aber um weniger. Alle meine Klassenkameradinnen hatten schon einen Jun gen geküsst, nur ich war eben noch nicht erwachsen. Und deswegen habe ich Boris geküsst.
»Ich hab einen Jungen geküsst«, verkündete ich stolz.
»Wen? Sag schon. Wen?«, kam's neugierig zurück.
»Boris!«
»Uuuäääh! Boris?! Das ist ja ekelhaft.«
Wie gesagt. Aber dieses Urteil war leichter zu ertragen als das ständige »Alice hat noch keinen Jungen geküsst. Alice hat noch keinen Jungen geküsst.« Dazugehören müssen war eben damals ein Gebot der Stunde. Ich grüble ein wenig weiter und stelle fest, dass meine Damals-Geschichten auf eine merkwürdige Art mit einem anderen Wort verbunden sind: Männer. Also im weitesten Sinne. Das erste Mal verliebt, Micha, fünfzehn Jahre. Nur Fum meln hinterm Jugendzentrum. Ich war noch nicht so weit. Genau genommen hatte mich meine Mutter derart eindringlich vor intimeren Kontakten gewarnt, dass ich Angst hatte, ohne mindestens drei exotische Krankheiten nicht aus der Nummer herauszukommen. Das zweite Mal verliebt, Peter, auch fünfzehn. Das war nur drei Wochen später. Micha hatte mich sitzen gelassen, weil ich mich standhaft weigerte, mich von ihm mit irgendetwas Unaussprechlichem anstecken zu lassen. Mit Peter hätte ich gern
und wäre sogar bereit gewesen, das Risiko auf mich zu nehmen, den Rest meines Lebens auf der Intensivstation zu verbringen. Nur war dieses Mal Peter nicht so weit. Nicht mal Fummeln hinterm Jugendzentrum. Ein so ge nannter Voll-Flop, wie mir eine frühreife Klassenkame radin sagte, die sich auch die Zähne an ihm ausgebissen hatte. Ich bin erst durch Ruth, die damals schon in meiner Klasse saß, dahinter gekommen, woran es lag. Ruth hat Peter Jahre später beim Abiturball rumgekriegt. Nachdem sie den Ball verlassen hatten, begann ein mehrstündiges Vorgeplänkel. Ruth hat allein eine Stunde gebraucht, um Peter über die Türschwelle der elterlichen Wohnung zu bugsieren. Als sie um vier Uhr morgens endlich ins Bett kamen, hatten sie dort drei Minuten so was Ähnliches wie Sex. Ruth sprach von einem »umgekehrten Coitus interruptus«. Sie meinte damit wohl, dass die Interruptus-In tervalle insgesamt länger waren als der eigentliche Coitus. Noch in der gleichen Nacht hat Peter das Weite gesucht und es erst zwei Wochen später in San Francisco gefun den. Von dort schickte er Ruth dann das Bild seiner ers ten wirklichen »Freundin«: einem Bulldoggen-ähnlichen Schnauzbarttyp in
Nieten-Lederklamotten.
Peter war bei seinem Coming-out fast zwanzig Jahre alt, und wenn ich mir das Bild seiner »Freundin« in Erinnerung rufe, war das wohl im wahrsten Sinne des Wortes eine schmerzliche Erfahrung.
Ich selbst war fast siebzehn beim denkwürdigen »ersten Mal«. Auf einem Schul-Zeltlager in der Normandie, mit Richard, einem bildhübschen Pariser Bengel. Meine Vorstellung davon war alles andere als revolutionär. Ir gendwie spielten dabei Violinenklänge und Weichzeichner eine herausragende Rolle. Elektrisierende Berührungen in einer samtweich-wolkenhaften Sphäre. Die Realität war der kalte, knüppelharte Boden eines muffigen Zweiper sonenzeltes, aus dem ich erst Ruth verscheuchen musste. Und mein Pariser Adonis wollte sich so gar nicht mit dem
sprichwörtlichen französischen Charme aufhalten. Viel leicht hat er ihn auch vorher schon nicht an den Tag gelegt. In Französisch war ich keine große Leuchte, und möglicherweise war das, was ich für charmantes Umgarnen gehalten habe, nichts anderes als die rüpelhafte Anmache eines Pariser Vorstadtproleten. Auf Französisch klingt es selbst dann geil, wenn man beleidigt wird. Und jetzt läuft in Paris ein herangewachsener Richard herum, der der festen Überzeugung ist, deutsche Mädels kriegt man ins Bett, wenn man ihnen sagt: »Los jetzt, runter mit den Klamot ten, du Zicke.«
Aus den Gedanken an den wenig ruhmreichen Beginn meines Sexuallebens reißt mich das Handy, wobei ich gleich mit der Nase in die wenig ruhmreiche Gegenwart meines Sexuallebens gestoßen werde. Es ist Jan. Der Jan, den ich vor einigen Tagen in der Trees Lounge kennen ge lernt und mit dem ich eine Nacht verbracht habe. Woher hat der meine Nummer? Danach gefragt hat er jedenfalls nicht. Am Morgen danach hat Jan ein solches Desinteresse
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