Alice at Wonderland
Raubkopien von »Texas Ketten sägen-Massaker« gegen »Megageile Krankenschwestern« getauscht hat. Aber unsere Diskussion nutze ich als kostenlose Lehrstunde in Sachen Erziehung. Bestechung, gegenseitige Beleidigung, Prügel androhen, seinen Eltern erfundene Geschichten über ihn erzählen (»Wem werden sie wohl eher glauben, mir oder dir?«), so tun, als ob man wegginge, das neueste Gran-Turismo-Videospiel verspre chen usw. Ich probiere alles durch und mache mir Noti zen. Wer weiß, wann man später bei den eigenen Kindern mal welche Taktik anwenden kann.
Schließlich kommt Nina und erlöst mich.
»War er denn artig?«
»Ein Goldschatz!«, sage ich.
»Und du, hat's dir auch gefallen, mit Tante Alice?«
»Es war gaaaanz, gaaanz toll!«, antwortet Thorben, während ich ihm einen Fünfer zustecke.
»Und bei dir?«, frage ich Nina. »Alles in Ordnung? Was hat der Arzt gesagt?«
»Welcher Arzt?«, will Nina wissen. »Ich war nicht beim Arzt. Nein. Markus hat doch heute seinen freien Tag. Und da dachten wir, wenn du Thorben nimmst, können wir mal so richtig schön zusammen shoppen gehen!«
Das sind diese Momente, in denen man froh ist, wenn man kein scharf geschliffenes Fleischermesser bei sich hat.
Ich bleibe vor dem Kino stehen und sehe Nina und ih rem Sohn noch eine Weile nach. Sie wollen zum Media Markt. Markus hat da einen neuen Palm-Pilot entdeckt und will für Thorben-Hendrik auch einen kaufen. Ein bisschen Zeit habe ich wirklich noch mit Kindern, denke ich, und außerdem braucht man dazu auch den richtigen Kerl. Da höre ich eine bekannte Stimme hinter mir. Ich drehe mich um. In einiger Entfernung steht Stephan, mein Spielplatzfreund, zusammen mit einer jungen Frau. Er schiebt ihr den Kinderbuggy hin, in dem das zweijährige Mädchen sitzt.
»Danke nochmal, dass du so kurzfristig auf meine Toch ter aufgepasst hast«, höre ich die Frau sagen, während sie ihm Geld in die Hand drückt.
»Ach und ähm ...«, offensichtlich kann sie sich den Na men nicht merken.
»Stephan«, hilft er ihr.
»Richtig. Also Stephan, wenn du nichts dagegen hast, rufe ich dich an, wenn ich nochmal wen für Lisa brau che.«
So ein hinterhältiger Heuchler, denke ich. Auf dem Spielplatz den trauergebeugten Vater mimen, und in Wirklichkeit ist er nichts weiter als ein Babysitter. Stephan dreht sich um und entdeckt mich.
Ob er mir die Geschichte von der Notambulanz der Psychiatrie, wo man Thorben-Hendrik eine Weile beobachten will, glaubt, weiß ich nicht. Jedenfalls gehen Stephan und ich in »Matrix Revolutions«. Ich find's zum Kotzen; der Typ fährt voll darauf ab. Und anschließend schlägt er vor, mit mir zu McDrive zu fahren. Sorry.
Ich habe Stephan nie wiedergesehen. Und einen freien Tag hatte ich seitdem auch nicht mehr.
MÄNNER
Im Radio läuft die Ballade einer Rockband, die ihren Zenit schon überschritten hatte, bevor ich Boris aus der 7 b den ersten Kuss gab, den je ein Mann von mir bekommen hat. Soweit man Boris, damals niedliche dreizehn Jahre alt, als Mann bezeichnen konnte. Die Mitglieder dieser Rock band liegen jetzt in den bequemen Stühlen eines Alters heims herum oder noch etwas tiefer unter der Erde. Und das rechne ich ihnen hoch an. Es gibt andere, die diesen Anstand nicht besitzen und sechzigjährig noch über die Bühne humpeln und »Street Fighting Man« singen. Oder schlimmer: »Give it to me, baby«. Welcher noch so hirn tote Groupie würde es einem Rentner besorgen wollen?
Der Song träufelt melancholieschwanger auf meine Kü chenfliesen. Es geht um einen Mann, der auf einem Pferd ohne Namen durch die Wüste reitet, warum auch immer. Lyrik ist nicht meine starke Seite. Normalerweise klopft die Melancholie spätabends ans Fenster, mit einer Fla sche schwerem spanischem Landwein in der Hand. Mich erwischt sie morgens bei einer Tasse zu dünnem Kaffee. »Mann auf Pferd ohne Namen in Wüste« ist die Art Song, die einen ins Grübeln bringen, grübeln über Geschichten, in denen das Wort damals eine Hauptrolle spielt. Damals ist das Generationen übergreifende Synomym für verlorenes Glück. Sogar Teenager benutzen es.
»Ey, das war voll cool damals im Ferienlager.« .Teenager benutzen es auch für Zeiträume von vierzehn Tagen.
Damals ist aber auch das Synomym für das Glück, etwas verloren zu haben, was man nie besitzen wollte. Wie zum Beispiel Boris. Ich wollte Boris gar nicht küssen. Er war klein, rothaarig und im örtlichen Ruderclub. Also alles in allem ekelhaft. Und Boris hat mich auch
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