Alice at Wonderland
gezeigt, dass ich froh war, als er ging. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich mich überhaupt mit ihm eingelas sen habe. An einer unüberwindlichen Sprachbarriere lag's nicht. Dazu braucht es mehr als zwei Cocktails. Wahrscheinlich daran, dass Jan zu den Männern mit den zwei Gesichtern zählt. Sie haben eines für abends, mit dem sie dir vermitteln, dass ihr ganzes Interesse auf dich gerich tet ist. Und eines für morgens, das ganz klar zeigt, dass ihr ganzes Interesse dem Sportteil der Zeitung gilt. Den hat er heute wohl schon durch, denn er will sich mit mir verabreden. Das entspricht aber nicht ganz den Regeln. Keine Telefonnummern tauschen heißt, nur einmal Sex. Mann rückt seine Nummer raus, möglicherweise nochmal Sex. Frau rückt ihre raus, am selben Abend nochmal Sex. Beide Nummern werden ausgetauscht, wir fangen eine Beziehung an. Aber Jan hat sich meine Nummer irgendwo erschnüffelt und das heißt eigentlich: Ohrfeigen. Und deswegen reagiere ich logisch und konsequent. Ich lüge ihm vor, dass ich in den nächsten Tagen praktisch nur in meinem Büro anzutreffen bin und danach für ein halbes Jahr nach Helsinki gehe. Derart deutlich die Meinung ge sagt, kann ich davon ausgehen, dass sich Jan endgültig aus meinem Leben verabschiedet hat.
Ich kehre zurück in meine seltsame Morgenstimmung und tue etwas, das ich schon lange nicht mehr getan habe. Ich hole meine Schatzkiste hervor. Ein hölzernes Kistchen im China-Dekor, das die wirklich wichtigen Dinge be wahrt. Billige Schmuckstücke, die irgendwann mal in wa ren, es nie wieder sein werden und deshalb der Nachwelt erhalten werden müssen. Fotos von Personen, bei deren Anblick ich immer schwärmerisch sagen muss: »Häh, wer ist das denn nochmal?« Und ein Bündel mit Briefen. Das ist eine mittlerweile in Vergessenheit geratene Form, mit anderen über weite Strecken hinweg zu kommunizieren. In meinem Fall hieß das, mehrere Straßenzüge. Die meis ten Briefe haben Herzchen drauf und enthalten kaum mehr als endlose Variationen der Worte »lieben«, »küs sen« und »vermissen«.
Dann der größte Schatz: die Tagebücher. Sie haben geduldig alles aufgenommen, was ich mich nicht zu sagen traute. Und wenn ich wieder hineinschaue, bin ich froh, dass ich das meiste davon nie gesagt habe. Deswegen lässt man Tagebücher in den dunkelsten Ecken verschwinden. Es ist nicht so sehr die große Angst, Fremde könnten die intimsten Gedanken lesen, sondern den einzig richtigen Schluss aus diesem Geschreibsel ziehen: dass der Verfasser in eine Irrenanstalt gehört. Ich habe schon vor etlichen Jahren aufgehört, Tagebücher zu schreiben. Und angefangen habe ich mit der unseligen Peter-Episode. Es hatte mich schon nachhaltig verstört, mit meiner erwachen den Sexualität ausgerechnet auf den einzigen Jungen der Schule zu stoßen, der nicht bereitwillig über mich herfiel.
In den Büchern ist wieder viel von Lieben und Küssen die Rede, und fast alles dreht sich wieder um Kerle. Für die klassischen Ponyhof-Geschichten war ich schon zu alt und für existenzielle Krisen zu jung. Manche holen beides im Alter von dreißig nach. Ich habe mich stattdessen für einen Job beim Fernsehen entschieden und bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich besser damit fahre.
Das letzte Buch, eigentlich schon zu einem reinen Ter minkalender verkommen, habe ich mit zweiundzwanzig beiseite gelegt. Henning, 20 Uhr im Loretta's. P. nicht ver gessen, lese ich da. Was bedeutet das? Warum habe ich das nicht ausgeschrieben? Wozu sind denn Tagebücher da? Während ich heute noch auf siebzehn Seiten das Drama meiner Entjungferung nachlesen kann, bleibt die vermut lich viel interessantere Henning-Episode völlig im Dunkeln. Kein Gesicht mehr vor Augen, und welches P. ich nicht vergessen wollte, ist mir völlig rätselhaft. Die Pille? Einen anderen Typen, mit dem ich auch verabredet war?
Ich gehe in Gedanken alphabetisch meine Liebhaber durch, so wahnsinnig viele waren das ja nicht, bleibe aber schon bei D stecken. Dorian. Meine einzige ernst zu neh mende Beziehung, fast sechs Jahre lang, und damit hält er den Positiv-Rekord in puncto Dauerhaftigkeit. Bei Dorian habe ich einmal P. vergessen und mir wochenlang eingere det, dass Mutter sein ja eigentlich die Urbestimmung ist. Als feststand, dass ich nicht schwanger war, habe ich es mir in deutlich kürzerer Zeit wieder ausgeredet. Mit Dorian habe ich sogar kurz zusammengewohnt. Mit Dorian war ich in Italien, in Thailand und in der Paar-Therapie. Das war
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