Alice at Wonderland
verloren.«
Der Pförtner lehnt sich vor: »Und wissen Sie, was das Komische ist? Der konnte sich absolut nicht erklären, wie der Umschlag ...«
Ich höre nicht weiter zu. Es ist allmählich Zeit für einen Nervenzusammenbruch. Zwanzig, denke ich taub, zwan zig Foltermethoden. Der Nächste, der dich fotografiert, Jenny, ist der Leichenbeschauer.
Ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen bin, stehe ich kurz darauf an der Kasse der Kantine und kippe zwei Piccolo auf ex. Das stellt die Verbindung zwischen einigen Neurotransmittern wieder her, die ich dringend brauche für das, was jetzt auf mich wartet. Ich sehe mein Spiegel bild in einer Glasscheibe, aus der mich ein gerupftes Huhn anstarrt. Wild fahre ich mir ein paar Mal durch die Haare. Ein kleiner Tipp am Rande: Wenn die Frisur ruiniert ist, sollte man auf keinen Fall versuchen, sie halbwegs wie der zu richten, sondern ihr mit schnellen Handgriffen den Rest geben. Das sieht dann aus wie gewollt. Solchermaßen gewollt stehe ich mit einer 45-minütigen Verspätung vor der Höhle des Löwen. Ich schließe kurz die Augen und suche tief in mir nach einem Rest von Energie. Irgendwo in den Zehenspitzen werde ich fündig.
Das Kuvert mit Carl-Uwes Trauerbildern in der Hand betrete ich den Raum. Ein denkwürdiger Auftritt. Ich hatte damit gerechnet, einen proppevollen Saal vorzufin den, wo ich mich, verdeckt durch die Rücken der dicht an dicht stehenden Kollegen, an die Wand quetschen könnte. Nicht mal die Hälfte der Stühle ist besetzt, vorn stehen Bartholomäus und mein Chef und haben freies Schussfeld auf die Tür. Und alles starrt mich an. Mein Chef ist der Möglichkeit beraubt, wieder wie ein Derwisch in der Ge gend herumzuhopsen, und versucht, seinen Zorn durch die Augenhöhlen entweichen zu lassen. Er sieht aus wie eine zum Bersten gefüllte menschliche Luftmatratze, de ren Ventile vom Überdruck nach außen gestülpt werden. Carl-Uwe habe ich durch mein Erscheinen offenbar in seiner Rede unterbrochen. Er sieht mich lächelnd an.
»Ah, Alice. Wir hatten ja schon das Vergnügen«, sagt er, wieder mit diesem zweideutigen Unterton. Ich lasse mich auf den erstbesten Stuhl fallen. Neben den Graphiker, der mir einen scheelen Seitenblick zuwirft. Er tuschelt mit sei nem Nachbarn.
»Den Typen da«, und er zeigt auf Carl-Uwe, der seine
Rede fortsetzt, »den kenn ich. Irgendwo hab ich den schon mal gesehen. Ich muss ihn nachher mal fragen.«
Natürlich hat er ihn schon mal gesehen, auf den Fotos neben dem offenen Grab. Aber das ist jetzt mein geringstes Problem.
Fieberhaft denke ich darüber nach, wie ich unbemerkt die Umschläge tauschen kann. Noch so eine Chance wie bei der Vorzimmerdame in ihrem Zeitlupen-Universum bekomme ich garantiert nicht. Carl-Uwe sieht mich wieder an und winkt mich nach vorne. Mist. Ich muss nicht nur in die Höhle des Löwen, sondern direkt zwischen seine Pranken. Ich verstecke das Kuvert hinter meinem Rücken und lanciere mich etwas ungelenk durch die Stuhlreihen, verfolgt von Blicken voller Neid, Hass und Abscheu. Noch weiß ich nicht, ob die geballte Abneigung dem Privileg zu verdanken ist, gleich am ersten Tag vom neuen Abteilungsleiter aufs Podium gerufen zu werden, oder ob meine geschätzten Kollegen inzwischen von dem Graphiker gebrieft wurden. Grabschänderin, elende.
Vielleicht spielt mir auch meine Wahrnehmung einen Streich, und es ist das pure Mitleid, das mich auf den Weg nach vorn begleitet. Im Gesicht meines Chefs ist allerdings kein Hauch eines wohlmeinenden Gefühls vorhanden. Er hat diesen mordlüsternen
Wir-sprechen-uns-noch-Blick drauf.
»Ich möchte Ihnen jetzt eine ganz besondere Mitarbei terin präsentieren«, sagt Carl-Uwe und sieht mir wieder zu tief in die Augen. Dann legt er sogar einen Arm auf meine Schulter. Im Augenwinkel sehe ich mein Kuvert auf dem Tisch vor ihm liegen. »Sie kennen sie natürlich alle, aber mir ist ihre ... (ganz kurze, wirklich nicht notwen dige Kunstpause, wie ich finde) ... reizende ... Bekannt schaft erst seit heute vergönnt.«
Komm schon, du Widerling. Schlachte mich. Ich bin das Lamm. Das ist mein Untergang. Ich sitze in einem brennenden Flugzeug ohne Fallschirm. Ich bin die Letzte
auf dem Oberdeck der Titanic. Und dann lässt der Kerl eine Lobeshymne auf die Gemeinde los, die sich gewa schen hat. Obwohl ich so einen voll gestopften Tag hätte, hätte ich noch die Zeit gefunden, seine Wenigkeit hierher zu chauffieren, trotz widriger Umstände, geduldig seinen Ansprüchen
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