Alice at Wonderland
Dreizimmerwohnung in einem Viertel zu ergattern, von dem aus man nicht den ICE nehmen muss, um in die In nenstadt zu gelangen. Glück insofern, als die schärfsten Konkurrenten um die Wohnung ein Architekt, zwei Ärzte sowie ein BKA-Beamter waren. Die übrigen 500 Bewerber fielen gleich durchs Raster. Ausnahmslos Jurastudenten, Finanzbeamte und andere Kleinkriminelle. Der Architekt war ein besserwisserischer Hätt-ich-anders-gemacht-Typ und mäkelte etwas zu sehr an der Innenausstattung herum. Die beiden Ärzte haben sich während der Besichtigung in die Wolle gekriegt, ob Akupunktur als Heilmethode taugt oder nicht. Und der BKA-Beamte sah leider so aus wie einer von denen, die er eigentlich von Berufs wegen hinter Gitter schicken sollte. Ich blieb übrig und konnte es sogar verhindern, mit dem Vermieter »ganz unverbind lich einen Kaffee zu trinken«. Trotzdem blieb er mir ein halbes Jahr lang hartnäckig auf den Fersen, bis er von dem BKA-Beamten wegen unkorrekter Aktiengeschäfte ver haftet wurde. Seitdem gehört das Haus einem japanischen Geschäftsmann, von dem ich mich gern auf einen Kaffee einladen ließe. Er wohnt nämlich in Tokio, und da war ich noch nie.
Das Viertel, in dem ich wohne, hält auf eine rührende Art die Waage zwischen Schick und Schmuddel. In einem Weinladen wird man für drei Flaschen einen Monatslohn los, während die nicht weit davon entfernte »Grill-Sta tion« einer klarer Fall fürs Gesundheitsamt ist. Es gibt
Möbeldesigner-Büros und Läden für Secondhand-Kü chen, Ärzte, die nur Privatpatienten aufnehmen, und an dere, die offenbar gelegentlich auch Nutztiere behandeln. Ein Comicladen und ein Shop für Grufti-Bedarf existieren einträchtig neben Cittá di Bologna und Gucci. Und origi nelle, witzige Namen müssen her, bis zur Schmerzgrenze. Der Friseur oder besser Stylist nennt sich »Haargenau«, ein Bike-Shop »Rad & Tat«, eine Kleintierhandlung allen Ernstes »Mehr Schweinchen«. Wirklich gelungen, allerdings unabsichtlich, ist dieses zwanghafte Lustigsein nur zwei älteren Frauen mit ihrer »Flickstube«, weil denen ständig das L aus dem schlecht geklebten Firmenschild fällt. Für die Achtklässler des nahe gelegenen Gymna siums jedenfalls der absolute Brüller.
Mit den Supermärkten sieht's schlechter aus. Es gibt nur zwei, einen teuren und einen nicht ganz so billigen. Das zwingt mich als erklärte Smart-Shopperin, für die Dinge des täglichen Bedarfs in das angrenzende Viertel zu fahren. Dafür hat's um die Ecke noch echte Bäcker, nicht die Filialen großer Ketten, deren Baguettes sich innerhalb von vier Stunden in Baseballschläger verwandeln. Und natür lich jede Menge Kneipen und Clubs. Der Obskurste davon ist keine dreihundert Meter von meiner Haustür entfernt. Ein dunkler Souterrain-Schuppen, aus dem nachts baustellenähnliche Geräusche wummern. Das ist nix mehr für mich. Die kontrollieren am Eingang die Personalausweise, und wer über sechzehn ist, kommt da nicht rein.
Was die Cocktail-Bars angeht, hält mein Viertel aber locker einem Vergleich mit Lower Manhattan stand. Da gibt's den ganzen Reigen, angefangen mit den trendy Cubano-Bars. Interieur und Bedienung sollen möglichst karibisch dreinblicken, beides stammt aber in der Regel aus der Türkei. Dafür dehnen die ihre Happy Hour auf die ganze Nacht aus, um den Studenten, die sich diesen Le bensstil eigentlich noch gar nicht leisten können, das Ba fög aus der Tasche zu ziehen für schlecht gemixte Mojitos.
Das andere Extrem wartet mit Model-Barmännern auf in schwarz-weißem Einheitsdress, die angeberische Fla schenwirbel-Tricks beherrschen und das Sechsfache kas sieren für unwesentlich besser gemixte Mojitos. Und dann gibt's die Trees Lounge, meine Cocktail-Bar. Aus einer al ten Eckkneipe hervorgegangen, hat der Besitzer die Bar mit einer imposant glitzernden Flaschenwand, einem rustikalen Tresen und schummrig rot gepolsterten Sitzecken liebevoll-lässig in einen Ort verwandelt, der den hybrid artigen Charakter des ganzen Viertels widerspiegelt. Üb rig gebliebene Einrichtungsgegenstände aus den Tagen, als sich hier Jupp und Heinz Pils und Korn bestellt haben, fügen sich in dem warmen Licht nahtlos in das neue Bar- Ambiente ein. Man kann sich heute noch Pils und Korn bestellen, nur traut sich das keiner. Weil heute alle Rene und Mark heißen und eine panische Angst davor haben, für jemanden gehalten zu werden, der Jupp oder Heinz heißt. Den Namen der Bar, Trees Lounge, hat der Besitzer von dem
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