Alice at Wonderland
also nur die Leute rechtzeitig entdecken, die von der nahe gelegenen U-Bahn-Station kommen. Nicht aber die, die aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Ein tödlicher Fehler. Denn von dort naht die Bestätigung des zweiten Alice'schen Gesetzes. Als ich mich zur quietschenden Tür umdrehe, ist es wieder mal zu spät. Ein Mittdreißi ger hat das Cafe betreten, in Windjacke und ungewasche nen Jeans. Und er hält eine rote Rose in der Hand. F..k! (Schlimmer englischer Ausdruck, der für solche Situationen angebracht ist. Die Übersetzung lautet F..k.)
Der Typ sieht mich. Ich bin bereits zur Salzsäule er starrt, und der Typ tut es jetzt, wo er mich sieht. Es ist Dorian. Der Dorian, mit dem ich mal zusammen war, meine einzige lange Beziehung und damit automatisch auch die schlechteste lange Beziehung, die ich je einge gangen bin. Seit dem Trennungsgespräch, von dem Ruth heute noch behauptet, dass es mehr eine Prügelei war, habe ich Dorian nicht mehr gesehen. Jetzt starren wir uns so lange mit offenen Mündern an, bis sich keiner von uns mehr damit rausreden kann, den anderen nicht gesehen zu haben. Dorians Blick flirrt durch den Raum. Die Rose spricht eine eindeutige Sprache. Ich bin die einzige Sing le-Lady hier - außer bis vor kurzem noch der Rothaari gen. Aber die wird er Mister Opel Ascona ja wohl nicht abspenstig machen wollen. Also ist die, auf die er wartet, noch nicht da. Ein schneller Blick auf die Uhr sagt mir, dass Alex in zehn Minuten eintreffen wird. Das ist der Super-Gau.
Dorian setzt ein schiefes Lächeln auf und kommt auf mich zu. Um mich als Kleinanzeigen-Depp zu outen, brauche ich gar keine rote Rose. Es reicht, wenn meine Verabredung eine sichtbar in die Gegend hält. Und für meine Verabredung wird die ganze versammelte Mannschaft Dorian jetzt halten. Die Situation ist schon wieder so kreischblöd, dass ich fast lachen könnte. Ausgerechnet mein Ex, der eine andere treffen wollte, trifft mich, die ei nen anderen treffen wollte. Und macht uns beide, die das alles schon schmerzhaft hinter sich haben, in aller Öffent lichkeit zu einem Blinddate, das den ganzen Scheiß noch vor sich hat. Und meine Schaltzentrale hat nichts Besseres zu tun, als mir das Blut jetzt in die Gegenrichtung zu pumpen. Ich werde puterrot, sodass ich einen Hustenan fall vortäuschen muss.
»Hi. Wie geht's?« Dorian bleibt unschlüssig und gekrümmt wie ein Fragezeichen vor meinem Tisch stehen.
Irgendwo existiert ein Buch, in dem alle Antworten auf
diese simple Frage stehen. Es sind an die sechshundert. Ich wähle die kürzeste.
»Äh ...«
»Lange nicht gesehen«, lautet seine tiefgründige Ana lyse.
Das Buch mit den Plattitüden für peinliche Situationen ist fast doppelt so dick. Und deswegen fällt meine Ant wort auch doppelt so lang aus.
»Äh ... ja.«
Nur um zu verhindern, dass das Ganze jetzt genauso ätzend wirkt, wie es ist, bitte ich ihn, sich zu setzen. Guck mal, die da. Ist wohl nicht der Traumtyp, den sie erwartet hat. Mein Gott, eine rote Rose, wie originell. Er gibt sie ihr nicht mal.
Ich habe jetzt eigentlich nur noch eine Chance. Dass seine Schnalle früher kommt als Alex und Dorian recht zeitig von meinem Tisch verschwindet. Ich überlege kurz, ob ich wohl Erfolg damit haben könnte, vor den anderen Gästen so zu tun, als sähe ich meinen seit langem in einem kasachischen Umerziehungslager verschollenen Cousin wieder, der noch nicht mit den Gepflogenheiten des mo dernen Europa vertraut ist. Dorian käme überzeugend genug rüber. Er sieht wirklich so aus, als wäre er lange irgendwo verschollen gewesen, und mit den Gepflogenhei ten des modernen Europa war er früher schon nicht ver traut. Der Druck, etwas sagen zu müssen, lastet so schwer auf meiner Zunge, dass ich nichts sagen kann. Ich werde den Teufel tun und ihm auf die Nase binden, dass ich hier auf einen Unbekannten warte.
»Wartest du auf jemand?«, fragt er plötzlich.
»Nein. Du?«
Das war jetzt nicht wirklich brillant, aber wenigstens habe ich die Klappe aufgekriegt. Dorian lässt diskret die Rose in seinem Schoß verschwinden.
»Bin doch grad erst reingekommen«, sagt er nervös ki chernd.
Die Konversation bekommt die intellektuelle Tiefe ei nes Tomatensalats.
»Na, ich dachte ... ich meinte, vielleicht bist du verabre det, wegen der ... deiner ... Rose da«, stammele ich.
»Nöö«, sagt er, ohne rot zu werden, »die hab ich grad geschenkt bekommen.«
Du konntest noch nie lügen, denke ich. Schade. Wenn wir noch zusammen
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