Alice at Wonderland
Versuchung, ihr hinterherzurufen, dass ich diesen Luschen-Laden nie freiwillig betreten hätte. Jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen fehlte noch. Guck mal, die da. Jetzt lässt die ihre Wut an der unschuldigen Bedie nung aus. Nur weil ihr Doofkopp sie versetzt hat.
Und genau diese Erkenntnis dringt allmählich zu mir durch. Keine Aliens oder Paralleluniversen sind hier am Werk. Ich werde schlicht versetzt. Nach fünfundvierzig Minuten Verspätung zählt als Entschuldigung eigentlich nur noch ein plötzliches Koma oder eine Geiselnahme. Wahlweise als Opfer oder als Täter. Ich würde beides akzeptieren. Aber nicht, sitzen gelassen zu werden. Und schon gar nicht in dieser Ödnis, in der ich zum Arsch der Woche gewählt werde, nur weil ich einmal meine Absicht geändert habe. Was mir, wie ich gerade bemerke, von der Bedienung mit der Warten-lassen-Strategie heimgezahlt wird. Sie widmet sich einem kleinen Wasserfleck auf dem Tresen mit einem Aufwand, als handele es sich um eine Jahrhundertflut.
Warum kommt er nicht? War ich zu aufdringlich in meinen Antworten? Glaubt er, ich würde ihn noch am Tisch vernaschen? Hat er doch eine Freundin, die ihn da bei erwischt hat, wie er mit einer Wildfremden im Internet herumturtelt?
Während ich mir das Gehirn zermartere, setzt ein Staf fellauf ein, als habe jemand draußen vor der Tür eine lange Schlange Männer aufgereiht, die nun in Minutenabständen in das Lokal gelotst werden, um mich fertig zu ma chen. Denn bei jedem blitzt die Hoffnung wieder auf. Bei jedem Zweiten natürlich auch die Angst, ausgerechnet das
könnte Alex sein. Der Erste, Prinzip Hoffnung, ist ein junger Typ, schlank, gut gebaut, mit offenem Gesicht. Kr rennt stracks zum Tresen. Der Freund meiner Bedienung. Die stellt sofort das Eindämmen der Überflutung ein, um sich mit der gleichen Hingabe der Zunge ihres Freundes zu widmen. Der Zweite entpuppt sich als Getränkelieferant, hauptsächlich Wasser, der Dritte, Mittdreißiger mit Brillengläsern so dick wie Flaschenböden, hat vermutlich noch nie einer Frau auch nur aus dem Mantel geholfen. Er fällt fast in Ohnmacht, weil ich ihn länger als drei Millise kunden angesehen habe.
Und so geht es weiter. Nummer 4, nein, der nicht. Nummer 5, nein. Nummer 6, vielleicht... nee, doch nicht. Nummer 7, um Gottes willen! Nummer 8, nein. Nummer 9, jaaa, der könnte es ... leider wieder nein. Nummer 10, hoffentlich nicht. Und noch ein paar Mal nein.
Nach einer Stunde habe ich mehr Männer inspiziert als in den vergangenen Jahren meines einst so blühenden Le bens. Und der Richtige war wie immer nicht dabei. Ende. Er kommt nicht mehr. Ich wünsche ihm endloses Koma oder dass das Lösegeld nicht gezahlt wird, auf dass ihn die übellaunigen Geiselnehmer filigran zu Tode befördern. Der Schnepfe, die mir mit größtmöglicher Verzögerung noch einen Wodka-Lemon an den Tisch gebracht hatte, gebe ich einen Cent Trinkgeld und verlasse den tristen Ort. Cafe Viola, denke ich verächtlich. Ich hätte es wissen müssen. In so einem Laden kann das Leben nur daneben gehen.
Auf dem Weg nach Hause wandelt sich meine Wut in Trotz. Selbst schuld, Alice. Warum lehnst du dich immer so weit aus dem Fenster? Rein gefühlsmäßig. Dann kannst du eben auch runterfallen. Was soll's. Ist ja nicht das Ende der Welt. Aber die Welt weigert sich, mir das zu bestä tigen. Es ist ein lauer Abend. Pärchen auf allen Wegen, Unterführungen, Bänken und Wiesen. Alle sind glücklich,
sogar Dorian, der seine Blondine jetzt bereits ans Bett gefesselt haben dürfte, auf welche Art auch immer. Und mein Trotz zerrieselt.
An einem kleinen Platz stehen ein paar Leute und sehen einem weiß geschminkten Typen zu, der mit schlenkern den Bewegungen die Gesten einiger Passanten imitiert. Er sieht mich und seine Augen werden groß und seine Mund winkel ziehen sich nach unten. Seh ich so frustriert aus? Dann stakst er mit seinen dürren Beinen auf mich zu wie ein Rieseninsekt. Das sieht so dämlich aus, dass ich lachen muss. Er baut sich vor mir auf und zaubert von irgendwo eine kleine, rote Papierrose hervor, die er mir anbietet. Ich nehme sie, gebe ihm einen Kuss und werfe das Trinkgeld in seinen Hut, das die Viola-Schnepfe nicht bekommen hat. Die Leute applaudieren. Hier habe ich mein echtes Publikum. Die Trauermiene des Weißgeschminkten wird zu einem Lächeln, und ich gehe, mit einer roten Rose und weißen Lippen.
Zu Hause ist von meinem Gefühlswirrwarr nur noch eine leise Enttäuschung übrig
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