Alice at Wonderland
dem kaum ein Wort zu entlocken ist. Ich atme kräftig durch, und der zweite Zug bleibt mir in den voll gepump ten Lungen stecken. Denn in diesem Moment betritt ein Typ den Laden. Groß und blond, schwarze Hose, weißer Rollkragen-Pullover, links und rechts baumeln Ohrringe. Ich bin darauf trainiert, Typen sofort einer bestimmten Automarke zuzuordnen, was das blitzschnelle Erfassen des gesamten Charakters erheblich vereinfacht. Das da ist ein Opel Ascona. Und zwar mit stilisierten Flammen auf der Kühlerhaube und Kenwood-Aufkleber, so groß, dass man nicht mehr durch die Heckscheibe sehen kann. Das wird doch nicht... Der Typ bleibt im Eingang stehen und sieht sich um. Er sucht jemanden. Das kann nicht... Das Blöde ist, Alex passt nicht in diesen Laden, und das trifft auch auf den Typen da an der Tür zu. Das darf nicht...
Er sieht in meine Richtung und lächelt. Mein Gott, bin ich froh, dass ich keine rote Rose zum Schwenken habe. Andererseits, diese Cafe-Stühle sind denkbar ungeeignet, um gänzlich darin zu verschwinden. Eh zu spät. Der Typ steuert auf meinen Tisch zu und grölt ein »Hi« heraus an der Grenze zu einem Brunftschrei.
>Himmel, was mach ich bloß oh hallo ich bin die Schwester von Alice die konnte nicht kommen ich hab mir nur ihre Klamotten geliehen und ich muss jetzt auch ganz schnell ach was nützt es du bist in der Falles rast es ohne Punkt und Komma durch die Schaltzentrale in meinem Hirn, die eigentlich für fixe Patentlösungen zustän dig ist. Schicksalsergeben und mit einem Hauch dessen, was man unter günstigeren Bedingungen noch als gequältes Lächeln bezeichnet hätte, stehe ich auf. Morituri te sa lutant, Daumen nach unten, ja, lacht mich alle aus, er ist schlimmer als das Phantom der Oper.
Der Typ macht einen behänden Bogen um meinen Tisch und pflanzt sich breitbeinig neben eine verhuschte Rothaarige hinter mir, die ihn dort mit einer Trauermiene empfängt, als hätte sie zu lange Politologie studiert. Pfeifend entweicht die Luft aus meinen Lungen, und ich versuche, herauszufinden, wo all mein Blut abgeblieben ist. Irgendwo jenseits der Kniekehlen, schätze ich. Erst dann wird mir bewusst, wie dämlich ich hier in der Gegend herumstehe. >Auf die Toilette<, sagt die Schaltzentrale, wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte. Dort warte ich so lange, bis mein Gesicht wieder Farbe angenommen hat, und erst dann traue ich mich an meinen Tisch zurück.
Dieser Zwischenfall am Rande der Ohnmacht führt mir meine Unerfahrenheit in Blinddate-Angelegenheiten erst richtig vor Augen. Nur ich kann so doof sein, mir einen Tisch in der Mitte des Raumes auszusuchen, von dem es kein Entrinnen gibt. Und wahrscheinlich sollte ich auch das, woran ich zu erkennen bin, so lange verdecken, bis feststeht, dass ich erkannt werden will. Dummerweise sind alle Tische besetzt, ich muss also auf dem Präsentierteller bleiben. Und ich habe nichts dabei, um auch nur meine Schultern zu verdecken. Blutige Anfängerin. Etwas nervös rede ich mir ein, dass mir nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit eine zweite derartige Attacke erspart bleibt. Etwas nervös, weil es da noch das zweite Alice'sche
Gesetz gibt, das da lautet: Wenn du denkst, es geht nicht ' mehr, setzt das Schicksal immer noch einen drauf. Das erste lautet übrigens: Finger weg von den Kerlen. Es sei denn, es geht nicht anders. Ein sehr weibliches Gesetz. Auf allen Seiten mit Hintertürchen versehen.
Es gelingt mir, mich etwas zu entspannen, hauptsäch lich, weil jetzt nicht ich, sondern eine rothaarige Polito logiestudentin den übrigen Gästen klarmachen muss, dass sie den Kerl eigentlich gar nicht kennt und dass das eine echt blöde Verwechslung ist.
Noch zwanzig Minuten. Ich drehe mich etwas ein, so dass ich durch die Schaufenster die Straße beobachten kann. Vielleicht verhilft mir das zu einem entscheidenden Zeitvorteil, falls ... ich mag nicht dran denken.
Die Musik wechselt zu Paolo Conte. Immerhin. Offenbar ist die Frau hinter dem Tresen der Ansicht, ein biss chen Stimmung in den Laden bringen zu müssen. Und sie hat sogar herausgekriegt, dass der große Knopf am Verstärker dazu dient, die Musik in den hörbaren Bereich zu transponieren. Was bei Paolo Conte in Ordnung geht. »It's wonderful ... wonderful ...«, singt er. Vielleicht ist es das, jawohl. Zuversicht kehrt zurück, Vertrauen, Eu phorie. Und das Quietschen der Eingangstür. Ich sitze nicht direkt am Fenster, sondern wie gesagt im Zentrum des Unheils. Ich kann auf der Straße vor dem Cafe
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