Alicia - Gefaehrtin der Nacht
einigen Kleidungsstücken zu packen. Vorerst sollte ich in Laureans Nähe bleiben, was ohnehin das war, was ich mir am meisten wünschte. Er hatte mich gewarnt, dass es in den ersten Tagen nach meiner Verwandlung zu unkontrollierten Ausbrüchen kommen konnte. So konnte es beispielsweise passieren, dass meine Reißzähne sich unerwünscht zeigten, und das musste um jeden Preis verhindert werden. In der Bank meldete ich mich zunächst für eine Woche krank, danach würden wir entscheiden, wie es mit mir weitergehen sollte.
«Wir brauchen das Geld nicht , das du verdienst», hatte Laurean gesagt. «Aber es ist deine Entscheidung, wenn du dich weiter in ihrer Welt bewegen willst, für eine Weile jedenfalls.»
« Ja, aber was tun wir denn den ganzen Tag, wenn ich nicht arbeiten gehe oder schlafe?», hatte ich wissen wollen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das Leben von nun an aussehen würde. Musste ich wirklich alles hinter mir lassen? Ich hatte lange und hart daran gearbeitet, um beruflich an den Punkt zu kommen, an dem ich jetzt war. Andererseits, was bedeutete das schon? Es war höchst fraglich, ob irgendjemand mich in der Bank vermissen würde, wenn ich nicht zurückkehrte. Und was gab es eigentlich in meinem Leben, das mir wirklich wichtig war? Ich dachte an Lena, aber das war vorbei, sie hasste mich nun gewiss, und ich konnte es ihr nicht verdenken.
«Du wirst sehen, es warten Herausforderungen auf dich . Wenn die Zeit dafür reif ist, Isa, wirst du mehr erfahren. Du musst lernen, Geduld zu haben. Zeit spielt für dich nun keine Rolle mehr.»
Der Anrufbeantworter spulte sieben wütende und tränenreiche Anrufe von Lena ab und zum Schluss eine Nachricht von Hauke, der mich wüst beschimpfte und mir untersagte, mich ihnen jemals wieder zu nähern.
«W eißt du überhaupt, was du ihr angetan hast, du verfluchtes Miststück?», war das Letzte, das ich hörte.
Ich zog das Telefonkabel aus der Wand, dann löschte ich alle Nachrichten von der Mailbox meines Mobiltelefons. Es konnten nur weitere Verwünschungen oder Vorwürfe von Hauke und Lena sein. Wozu sollte ich sie mir anhören? Ich hatte mich gegen sie entschieden. Niemand war mehr wichtig, außer Laurean. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich vier Jahre alt war. Ich besaß ein paar verblichene Fotos, die ich mir niemals ansah, weil es zu sehr wehtat, dass ich mich nicht einmal mehr an sie erinnerte. Nach dem Unfall war ich in eine Pflegefamilie gekommen, da meine Großeltern väterlicherseits ebenfalls nicht mehr lebten, die Eltern meiner Mutter entweder nicht willens oder unfähig gewesen waren, sich um mich zu kümmern. Nach allem was ich wusste, hatten sie niemals meine Nähe gesucht, und mir war nicht bekannt, ob diese Leute überhaupt noch lebten. Ich hatte mich oft gefragt, was das für Menschen gewesen sein mochten, dass sie sich ihres einzigen Enkelkindes nicht angenommen hatten. Manchmal dachte ich auch, dass es vielleicht an mir gelegen haben könnte, dass sie mich nicht gewollt hatten. Alles in allem war es keine sehr glückliche Kindheit gewesen.
Mit der ersten Pflegefamilie lief irgendetwas schief, als ich noch klein war, sodass ich in die nächste kam und dann in noch eine und noch eine. Wo auch immer ich landete, geschah stets irgendetwas, das nicht in meiner Hand lag, aber zur Folge hatte, dass ich nicht bleiben durfte. Das ging so, bis ich endlich volljährig war und auf eigenen Beinen stehen konnte. Seitdem war ich wie isoliert durch das Leben gegangen. Liebhaber kamen und gingen, und wenn wir uns trennten, dann verschwanden sie spurlos aus meinem Umfeld. Es war, als müsste ich zwanghaft alle Brücken hinter mir zerstören, ehe ich allein weiterzog. Lena war die Einzige, die irgendwie an mir hängen geblieben war, meine liebe, treue Freundin. Außer ihr gab es in meinem erwachsenen Leben nur die Kollegen und Geschäftspartner, mit denen man essen ging oder sich nach der Arbeit auf einen Drink traf. Mit dem einen oder anderen von ihnen war ich im Bett gelandet, doch in gegenseitigem Einvernehmen hatten wir danach stets so getan, als sei nichts geschehen. Es gab niemanden, das gestand ich mir an jenem Tag ein, als ich allein in der Wohnung war und über alles nachdachte, absolut niemanden, der mich wirklich vermissen würde. Ich horchte in mich hinein und suchte nach dem Schmerz, den dieser Gedanke in mir hätte auslösen müssen, doch ich fand nichts als Leere. In mir klaffte ein Loch, das ich nur noch
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