Alicia - Gefaehrtin der Nacht
führen es immer mit sich. Für uns Blutdurstige ist das die schlimmste Waffe: Kommt auch nur ein Tropfen davon auf deine Haut, dann bist du verloren. Ich habe gesehen, wie Androlus, Geser und Jezebel unter den allergrößten Qualen verendet sind, und mit ihnen der größte Teil unseres Stammes. Es gab nichts, was wir dagegen tun konnten.»
Ich streckte eine Hand aus und berührte Laurean. Seine Miene war ernst und konzentriert, dennoch wusste ich, dass er nicht trauerte. Nicht auf die Art jedenfalls, in der ein Mensch um seine Schwester und die Eltern trauern würde. Für Laurean war der Tod Jezebels, Androlus‘ und Gesers nur ein Teil der Geschichte aller Salizaren, wenn auch ein bedeutungsvoller, finsterer, schmachvoller Teil. Und dennoch fühlte ich mich meinem Gefährten in diesem Augenblick besonders verbunden. Zugleich verspürte ich ein Gefühl unendlicher Einsamkeit und Isolation. Wie konnte ich denn wissen, ob ich Laurean jemals voll und ganz verstehen würde? Schließlich floss noch immer menschliches Blut durch meine Adern und ließ mich Dinge denken und fühlen, die Laurean vollkommen fremd waren. Kein Salizar würde versuchen, einem anderen Trost und Nähe zu spenden, weder mit Worten noch mit einer Umarmung. Andererseits standen sie einander körperlich viel näher als die Menschen, sie begriffen ihren Stamm mehr als einen einzigen Organismus denn als eine Ansammlung von Individuen. Ein Salizar würde sich ohne zu zögern in größte Gefahr begeben, um seine Brüder und Schwestern zu retten, und da der Stamm mehr zählte als der Einzelne, gab es weder Vorteilsnahme noch Lügen oder Verrat.
Und d och, eine Ausnahme gab es. Desan, den Verräter.
«Meinst du – er war es? Desan? Hat er sie verraten? Woher wusste der Mönch denn, dass er eine Salizarin vor sich hatte?»
« Ach, Alicia, für die Menschen sehen wir einfach nur schön aus. Sie begehren uns und ihr Verlangen macht sie blind. Darum erkennen sie nicht, was wir sind, außerdem glauben sie nicht an uns, sie denken, wir wären nur Wesen ihrer dunklen Fantasien und Ängste. Die Mönche jedoch wissen seit dem Morden durch die Morganthen, dass es uns Blutdurstige wirklich gibt, und dieses Wissen geben sie von einer Generation zur nächsten weiter. Sie wissen um unser besonderes Äußeres, die nachtschwarzen Augen, das Haar und die blasse Haut, vielleicht ist sie unvorsichtig gewesen und hat ihr Amulett sehen lassen. Ich weiß es nicht! Vermutlich hat sie die Tonsur nicht bemerkt, und …»
«Er trug eine Kapuze», warf ich ein. Dann kam mir ein erschreckender Gedanke. « Laurean, das hätte mir ebenso passieren können! Du hast mir niemals gesagt, dass ich darauf achten soll, was für eine Frisur meine Kunden haben, ich hätte jetzt an ihrer Stelle sein können, und …»
Laureans heiseres Lachen schnitt mir das Wort ab. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ein ungewohntes Gefühl durchströmte meinen Körper. Es war … ich war wütend!
«Verdammt, du lachst?» , rief ich aus und sprang auf. Da die Sonne bereits hoch am Himmel stand, konnte ich meine Reißzähne nicht fletschen, aber ich fauchte ihn dennoch an. Doch Laurean lachte immer noch, wobei er, wie es seine Eigenart war, kaum die Miene verzog.
«Alicia, dir wäre das nicht passiert. Ich bin immer in deiner Nähe.»
«Was für ein Unsinn! Wir haben seit … ach, ich weiß nicht seit wann, nicht mehr gemeinsam Beute gesucht. Wir Salizaren sind Einzelgänger, schon vergessen?»
Diesmal war es Laurean, der eine Hand nach mir ausstreckte, doch er erhob sich nicht, hielt sie mir nur auffordernd hin. Der Blick aus seinen taggrauen Augen war weich und gebieterisch zugleich und er ließ meinen Zorn in sich zusammenfallen. Ich sank vor meinem Gefährten auf die Knie.
«Aber … du kannst nicht in meiner Nähe gewesen sein. Es ist ja kein Problem, ich habe sehr gut auf mich aufgepasst und mich noch aus jeder brenzligen Situation herausgewunden. Aber das mit den Mönchen und ihrer Tonsur, das hätte ich wissen müssen!»
«Du weißt immer noch nicht alles über uns, Alicia. Wenn ich nicht selbst über dich wachen kann, dann tun es deine Brüder und Schwestern. Es ist immer jemand da.»
«Weil du meinst, dass ich nicht selbst auf mich aufpassen kann? Weil ich keine echte Salizarin bin?», fragte ich und spürte, wie der Groll erneut in mir aufstieg. Wann würde ich endgültig eine von ihnen sein?
«Sag das niemals wieder , Alicia! Du bist eine echte Salizarin, wie sonst hättest du uns
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