Alicia II
eine einzige weitere Lebensspanne zu geben, eine einzige Chance noch, Unrecht wiedergutzumachen und Wunder zu wirken, nur noch eine Lebensspanne, um weitere Fehler zu begehen, um die große Liebe zu finden. Immer wieder zwang ich mich aufzuwachen. Alicia, die sich um mich sorgte, aber klug genug war, keine Fragen zu stellen, flüsterte mir nur tröstliche Worte zu und erkundigte sich, ob ich etwas essen oder trinken wolle. Ich konnte nicht essen oder trinken.
Endlich, als wir bei Ben waren und er sich so gottverdammt fröhlich zeigte, so glücklich über den Erfolg der Mission, mußte ich ihm sagen: »Ben, es war unrecht.«
»Komm, komm, Voss, halt mir jetzt keine Moralpredigt. Das hatten wir alles schon einmal. Ich kenne die Argumente beider Seiten, ich …«
»Nein, das meine ich gar nicht. Ich will keine College-Diskussion abhalten. Ich glaube, wenn ich noch eine Diskussion über Ethik und Moral über mich ergehen lassen müßte, würde ich sterben. Ich will nur sagen, daß es – unrecht war. Es tut mir leid, daß ich es getan habe.«
»Vergiß es, Voss. Das geht vorbei.«
»Du hast unrecht. Ich habe unrecht. Es war nicht notwendig, sie zu töten.«
»Du bist nur aus der Fassung. Damit habe ich gerechnet, es ist eine natürliche Reaktion, und es ist nur logisch …«
»Halt mir nicht dauernd vor, was logisch ist. Nichts ist logisch. Millionen in Gaskammern zu schicken, Städte zu bombardieren, bewohnte Asteroiden zu sprengen, einen lächerlichen magischen Staub in eine Erneuerungskammer zu bringen. Nichts davon ist logisch.«
»Ich finde, du solltest dich ausruhen. Dann …«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, daß es unrecht war. Ich bedauere es nur. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, ich persönlich. Bei jedem anderen hätte ich vielleicht ein gesunderes Urteil, ich könnte sogar anerkennen, daß er gute Arbeit geleistet hat, aber, beim Teufel, ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Sag nichts mehr. Ich will nichts darüber hören, daß es richtig war und daß das Recht vieler vor dem weniger kommt oder daß Rechte abgewogen werden müssen.«
Ben nickte und verfiel in das Schweigen, das ich verlangt hatte. Alicia sagte: »Ich kann nicht an deine Millionen Seelen denken. Ich sehe immerzu die tote Cheryl vor mir. Ich sehe Cheryl, und ich stelle mir Stacy vor. Sie sind die einzigen Toten, die Bedeutung für mich haben. Die anderen …«
Sie beendete ihren Satz nicht. Wir schwiegen alle, bis ich erklärte: »Ich komme mir töricht vor. Ich gebe mir zuviel Mühe, Schmerz zu empfinden, und ich empfinde auch Schmerz, aber er läßt nach. Sorgt einfach dafür, daß ich den Mund halte, oder gebt mir etwas, das mich einzuschlafen zwingt. Daß ich schlafe, ohne zu träumen, kannst du das tun?«
Ben nickte.
Am nächsten Tag untersuchte er mich, ließ das Absorber-Wissen löschen und meinte, mit den Operationen könnten wir jederzeit anfangen. Ich hatte sie ganz vergessen, aber ich sagte, ja, bringen wir es hinter uns. Ben versprach, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.
Er schickte Alicia und mich in ein verlassenes Gebäude, das, wie ich bei unserer Ankunft feststellte, ganz in der Nähe des L’Etre lag. Beinahe hätte ich vorgeschlagen, daß wir uns im Restaurant eine Gourmet-Mahlzeit leisteten, aber dann dachte ich, daß wir sie beide nicht genießen würden.
Im vierten Stockwerk des früheren Bürogebäudes befand sich eine voll möblierte und ziemlich luxuriöse Wohnung. Viele Bilder hingen an den Wänden, die Möbel waren kostbar, im Schlafzimmer stand ein kreisrundes Bett, und das Bad war prunkvoll dekoriert. Ich nahm ein Bad, nur um mir die hornblasenden Kupidos und die Wasserspeier und die hübschen Damen und die Schnörkel ansehen zu können.
Ben kam
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