Alicia II
Cheryl versuchte, Alicia abzuschütteln. In ihrem Gesichtsausdruck mischten sich Todesangst und Staunen über Alicias Kräfte.
»Das ist genug, Alicia!« rief ich.
»Nein, Voss«, flüsterte sie noch einmal.
Bevor ich eingreifen konnte, schlossen sich Cheryls Augen, und ihr Körper wurde schlaff. Vielleicht habe ich etwas krachen gehört.
»Gehen wir, Alicia«, sagte ich. »Sie ist bewußtlos, wir können gehen.«
»Nein, Voss. Nein, Voss. Nein Voss.«
Nichts als dieser rituelle Singsang. Mir blieb nichts übrig, als sie an den Schultern zu fassen und von Cheryl wegzuziehen.
Cheryls Kopf hob sich mit Alicias Händen. Alicia wollte nicht loslassen. Ich mußte sie auf den Arm schlagen, um eine ihrer Hände zu lösen. Langsam, widerstrebend nahm sie auch die andere von Cheryls Hals. Ich brauchte Cheryl nicht nach Lebenszeichen zu untersuchen.
»Alicia, ich …«
»Sag nichts, Voss.«
Eine volle Minute lang saß sie da und starrte die Leiche an.
Ich wandte den Blick ab. Es war weniger deswegen, daß es mir vor Cheryls Leiche grauste, als daß ich Alicia nicht ansehen wollte.
»Es war nötig, Voss«, erklärte Alicia schließlich. »Wir haben immer noch eine kleine Chance. Wäre sie am Leben geblieben, hätte sie …«
»Was für eine Chance? Sie haben Stacy!«
»Stacy? Ist er festgenommen?«
Einen Augenblick lang konnte ich nicht sprechen, wollte ich ihr nicht sagen, daß auch er tot sein mußte. Dann erzählte ich es ihr.
»Es tut mir leid, Voss. Es tut mir leid, daß du es mir nicht sagen konntest. Aber ich glaube, ich habe es doch richtig gemacht. Wir mußten Cheryl töten. Es macht mir nichts aus. Glaub bloß nicht, daß es mir etwas ausmacht. Es gibt keinen Grund …«
»Vergiß es. Machen wir, daß wir hier wegkommen. Wie du sagtest, vielleicht haben wir noch eine Chance.«
Bevor wir das Büro verließen, blickte Alicia auf Cheryls Leiche zurück und sagte: »Ich hoffe, man findet sie rechtzeitig.«
»Rechtzeitig?«
»Nun, es trifft sich günstig für sie, daß sie hier gestorben ist. Sie kann erneuert werden und dann vielleicht wieder etwas Vernünftiges tun, Romane schreiben oder …«
»Komm schon.«
Ich erinnerte Alicia erst später daran – nicht bevor wir Korridore entlanggerannt und durch Luken geklettert waren und Kontrollpunkte umgangen hatten, nicht bevor wir in die Außenwelt gelangten und eine Limousine stahlen, nach Washington zurückfuhren und nach New York flogen –, daß sich ihre Hoffnung, Cheryl werde einen neuen Körper bekommen, auf eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit gründete.
Alicia fragte, immer noch benommen, wieso. Ich antwortete, Stacy und ich hätten Erfolg gehabt und für einige Zeit würden nur sehr wenige Erneuerte aus der Washingtoner Kammer für die Vergabe neuen Lebens zum Vorschein kommen. Alicia hatte Cheryl in ihre Zählung der vernichteten Erneuerten nicht mit eingeschlossen. Ein Ausdruck des Entsetzens überzog ihr Gesicht. Dann wurde sie ganz ruhig. Sie wiederholte, ich solle nicht glauben, daß es ihr etwas ausmache. Es tue ihr leid, aber es mache ihr nichts aus.
12
Während der Reise nach New York schlief ich immer wieder ein und sah die seltsamen Gestalten und flackernden Umrisse der Seelen vor mir, die ich »getötet« hatte.
Ich redete mir selbst zu, sie seien noch nicht einmal tot, sie seien immer noch bewußtlose Wesenheiten, die versorgt und erhalten wurden. Aber der Tod näherte sich ihnen. Sie würden langsam ausbrennen, ohne es zu merken, sie würden eine Lebensspanne zu früh in die Ewigkeit eingehen. Oder zu spät, je nachdem, welchen Standpunkt man einnahm. In jedem Traum schienen die Seelen zu leiden; sie beschworen mich, meine Tat rückgängig zu machen, sie am Leben zu lassen, ihnen nur noch
Weitere Kostenlose Bücher