Alicia II
Nacht der Liederlichkeit, die ich geplant hatte, war also ruiniert, und von Sams Schlägertruppe mochte mir noch mehr Gewalttätigkeit widerfahren. Wenn sie mich töteten und meine Leiche in irgendeinem Keller in Hough versteckten, bevor die Behörden mich fanden und die Implantation an mir durchführen konnten (das heißt, meine Seele, wie es genannt wurde, in die Gewölbe der Erneuerungskammer oder in einen neuen Körper übertrugen), dann war mir der endgültige Tod gewiß, von dem Bru so klagend gesungen hatte. Bei dem Gedanken erschauerte ich unwillkürlich.
»Was ist los?« fragte Bru.
Ihre Stimme klang so mitleidig, daß ich einen Augenblick lang versucht war, es ihr zu sagen. Doch soviel Verständnis sie haben mochte, sie würde bald den hoffnungslosen Tod ihres Liedes sterben. Was konnte sie der Tod eines Wackelpeters kümmern, der frisch aus dem Beinhaus gekommen war?
Ich sagte ihr nur, ich fürchtete, meine Angreifer könnten zurückkehren, und sie nickte.
»Du bist so feige, wie ich dich eingeschätzt habe, aber Grund genug hast du wohl.«
»Wahrscheinlich sollte ich gehen.« Ich setzte mich hoch. »Je länger ich bleibe, desto gefährlicher wird es für dich.«
»Mir ist es einerlei. Der Tod ist der Tod. Er könnte heute zu mir kommen, und ich wäre einverstanden.«
»Du hast dies Lied zu lange gesungen, Bru.«
»Ich habe es geschrieben, Voss.«
Da ich die Schönheit des Liedes und ihre eigene Schönheit, als sie es sang, immer noch empfand, beunruhigte es mich, daß eine so talentierte junge Frau sich nicht für das lange Leben qualifiziert haben sollte. In der Enklave hatte ich immer argumentiert, der Künstler solle von den Tests ausgenommen werden. Dann wurde mir regelmäßig entgegengehalten, wer denn definieren solle, was Kunst und Künstler seien – und daß sowieso immer nur ein kleiner Teil wertvoller Kunst unter den Ausgemusterten entstehe.
»Es ist ein schönes Lied, Bru«, sagte ich.
Sie lächelte.
»Ich danke dir. Ich nehme auch unverdiente Schmeicheleien gern entgegen.«
»Ich wünschte, ich könnte es noch einmal hören. Ich würde mich sogar noch einmal zusammenschlagen lassen, um es zu hören.«
»Dann hättest du es verdient, zusammengeschlagen zu werden.«
»Und von neuem, wenn ich hier nicht abhaue, solange ich noch eine Chance habe.«
»Nein!«
Sie packte meinen Arm. Sie hatte beim Entfernen des Make-ups keine gute Arbeit geleistet, und die orangefarbenen Flecken überall in ihrem Gesicht sahen wie ein Ausschlag aus.
»Ich sorge schon für alles«, flüsterte sie. »Meine Wohnung ist in der Nähe. Wir gehen dorthin, und dann bist du in Sicherheit. Selbst wenn sie deine Spur bis zu mir verfolgen, kann ich dich leicht aus dem Haus schaffen.«
»Aber du könntest dabei verletzt, getötet werden.«
Sie zuckte die Schultern.
»Ich könnte. Hm, die Vorstellung ist beinahe zu Ende. Ich werde nicht mehr gebraucht. Jetzt ist der richtige Augenblick zu gehen. Ich werde Pet überreden.«
Sie winkte Pet zu, der uns aus den Kulissen heraus beobachtete.
»Es ist … sehr freundlich, was du für mich tust.«
»Denk dir nichts dabei. Du hast mein Mitleid erregt. Aber das ist alles, was du heute nacht erregen wirst, merk dir das.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Du sollst dir nicht einbilden, nur weil ich Schauspielerin bin, könntest du von mir haben, was du willst.«
»Das habe ich mir nicht eingebildet.«
»Dann bist du wirklich merkwürdig.«
Sie erzählte Pet von ihrem Plan. Der Blick überlegenen Spotts, den er mir zuwarf, maskierte seine Jugend, aber er verweigerte Bru ihre Bitte nicht. Er sagte nur: »Bru, Bru, Bru …«
»Pet, Pet, Pet – auf Wiedersehen, Pet, morgen früh bei der Probe. Ich glaube, der heutige Abend hat mir eine Idee für
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