Alicia II
hörte ihre Stimmen, und anfangs gab sie nur Rat. Du weißt schon: Sei geduldig, und dein Liebster wird noch in diesem Monat zurückkehren, habe Glauben, und du wirst großen Reichtum gewinnen, bete, und das Glück wird zu dir kommen. Es war nichts Merkwürdiges daran, außer daß diese Ratschläge von einem kleinen Kind gegeben wurden.«
Während sie über Ethel sprach, näherte sie sich, als sei sie gerufen worden, dem kleinen Schrein und drehte einen Schalter an seinem Sockel. Diffuses Licht fiel auf die Statue, die ein ziemlich unscheinbares Mädchen darstellte, das mit unschuldigen Augen nach oben blickte, Heiligenbildern aller Religionen nicht unähnlich. Die Statue war gut gemacht und lebensecht, besonders für eine Miniatur. In einem schiefen Halbkreis waren um den Sockel typische Opfergaben angeordnet: Kerzen, kleine Plastikblumen, Gebetskarten.
»Später sagte sie, die Stimmen seien dahingegangene Ausgemusterte. Sie sagte, sie wänden sich in Schmerzen, wenn sie über diese Erde streiften und ihre Schrecken sähen.«
»Sie streiften über die Erde? Meinst du Geister?«
»Nicht ganz, obwohl sie sich unter uns wie Geister bewegen. Aber das Wort schmeckt nach Aberglauben. Wir denken an sie lieber als an Seelen.«
»„Seelen“ hat die bessere Tradition, denke ich.«
»Bitte spotte nicht.«
»Verzeihung. Wirklich, ich wollte nicht spotten. Mir ist es immer unangenehm gewesen, daß das Wort ‚Seele’ für die Erneuerungsübertragung verwendet wird. Ich bin nur ein bißchen überrascht und verwirrt, diese Seite an dir zu entdecken.«
»Ich unterscheide mich nicht von anderen meiner Art. Der Glaube an St. Ethel hat sich in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren stark unter uns verbreitet, obwohl die große Mehrheit der Ausgemusterten immer noch eher weltlich eingestellt ist.«
»Erzähle mir mehr von ihr. Ich bin … seit langem nicht mehr auf dem laufenden und weiß von nichts besonders viel.«
Bru lächelte. Gerade genug, daß es freundlich wirkte, nicht genug, um mehr zu sein. Ihre Augen glitzerten und spiegelten das Flackern der Kerze wider, die sie angezündet hatte.
»St. Ethel sagte, die Seelen sagten, sie seien dazu verdammt, auf Erden zu wandeln, solange ihre Körper von Erneuerten benutzt würden. Obwohl die Zeit ihrer Wanderungen selten länger als hundert Jahre betrage, sagte sie, lasse die Leerheit ihrer Existenz sie ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen. Sie erlangten erst dann die Freiheit, wenn der Besitzer des Körpers seine Seele einem neuen Körper einpflanzen lasse. Und damit beginne der Kreislauf von neuem, denn der Eindringling zwinge eine andere Seele, eine Ewigkeit lang über die Erde zu wandern. Nur der vorzeitige Tod eines in Besitz genommenen Körpers könne die Erdenwanderungen der verdammten Seelen abkürzen.«
»Du sagtest, sie erlangen die Freiheit. Wohin gehen sie dann?«
»In den Himmel, sagte St. Ethel. Sie sagt, wir kämen alle in den Himmel.«
»Ist das nicht besser als das, was die meisten Religionen zu bieten haben? Das Fegefeuer kann Jahrhunderte dauern, die Hölle für immer. Eine relativ kurze Zeit mit der Auflage, über diese Erde zu wandern, und dann ewige Erlösung im Himmel. Kein schlechter Handel, finde ich.«
»Es gibt Leute, die dem widersprechen würden, aber ich bringe es nicht über mich, Facetten meines Glaubens so kaltherzig zu diskutieren. Nach St. Ethel steht uns der Himmel nur deshalb offen, weil der Mensch in Gottes eigene Pläne für uns hier auf der Erde eingegriffen hat. Sie sagte, Er habe uns bestimmte Lebensspannen zugestanden – die grundlegende Vorbestimmung, so wird es manchmal genannt. Diese Lebensspannen würden durch den Erneuerungsprozeß
Weitere Kostenlose Bücher