Alicia II
zu entgehen, sah ich wieder auf die Bühne.
Die Schauspielerin wurde immer noch in der Reihe der Tänzer weitergegeben. Einen Augenblick lang war ich überzeugt, sie sei wirklich tot, der Schauspieler habe ihr sein Angebot gemacht, und sie habe es angenommen. Ich zwang mich, mich vorzubeugen, weg von dem Kissen. Diesmal verließen mich meine Gefühle nicht so schnell. Der Schauspieler lächelte breit.
»Hör auf zu schwitzen, Junge. Du lebst, und sie lebt auch.«
Plötzlich erwachte die Schauspielerin. Sie sprang auf den Boden hinunter, und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie rannte den Mittelgang entlang auf mich zu und ließ sich vor unserm Abteil auf den Boden gleiten. Sie faßte meinen Kopf und küßte mich fest auf den Mund, und der Schauspieler lachte dazu. Sein Lachen war teils fröhlich, teils beleidigend, als verspotte er sowohl den Tod als auch mich. Während die Schauspielerin mich küßte, drückte sie mich sanft wieder gegen das Kissen. Ihre Zunge drang kurz in meinen Mund ein und hinterließ dort den Geschmack nach Blut, eine Wirkung, die ich der Sensor-Ausrüstung nicht zugetraut hätte. Aber ich war sicher, daß der Geschmack nicht real war.
Die Schauspielerin erhob sich, machte ein paar anmutige Ballettschritte und nahm einen Ballon auf, der ihr vor die Füße rollte. Sie warf ihn mir zu, und ich schlug ihn zurück. Obwohl das Kissen Glückseligkeit ausstrahlte, empfand ich im Gegensatz dazu echte Furcht. Die Art, wie diese Darsteller sich auf mich konzentrierten, jagte mir Angst ein. Was wußten sie?
War die Tatsache, daß ich nicht hierhergehörte, so auffallend?
Die übrigen Mitglieder des Ensembles schlenderten durch den Zuschauerraum und wiederholten den Ballonwerfakt mit anderen. Ohrenbetäubende Musik brüllte los. Die Schauspieler reagierten darauf, indem sie automatenhaft zur Hauptbühne zurückkehrten. Einer von ihnen rezitierte ein Gedicht über die Bedeutungslosigkeit des Todes in jedem Lebensalter und kam zu dem vorhersehbaren Schluß, daß der diktierte Tod eines Ausgemusterten eine Beleidigung geheiligter menschlicher Werte sei. Obwohl ich die Poesie schlecht fand, zwang der Kissenapparat Tränen in meine Augen. Ich spürte eine Schönheit in den Zeilen, die ich verstandesgemäß nicht zu erfassen vermochte. Es war schlimm genug, daß man während eines scheußlichen Stücks still sitzenzubleiben hatte, aber darauf auch noch in einer Weise reagieren zu müssen, die der eigenen Intelligenz fremd war, das war unerträglich. Argwohn dämmerte in Marys Augen auf, als ich mich vorbeugte, deshalb gab ich mir Mühe, so dreinzublicken, als billige ich das, was ich sah. Ich ließ mich auch wieder zurücksinken.
Nach zwei ironischen Absätzen, die die Schlange vor dem Beinhaus und den unmittelbar bevorstehenden Tod beleuchteten, wurde die Schauspielerin, die mich geküßt hatte, von den anderen nach vorn geschoben. Sie hielt in dem Theater Umschau, als frage sie sich, was sie hier tue, und dann begann sie zu singen. Ihre Stimme war zart und kindlich. Sie schwankte bei den hohen Tönen und wurde bei den niedrigen zum Flüstern. Aber sie war schön, und auch das Lied war schön. Die Melodie war konventionell, beinahe klassisch. Der Text war einfach. Alle andere Musik, die ich bisher in meinem neuen Leben gehört hatte, war schrill und unangenehm gewesen. Das Lied der Schauspielerin wirkte nicht nur durch seine musikalische Schönheit, sondern auch durch die Art, mit der es die Traurigkeit eines individuellen Todes, des Todes der Sängerin, als einzigartige tragische Angelegenheit behandelte – ganz im Gegensatz zu der übertriebenen und polemischen Weise, mit der man sich in dem übrigen Stück mit dem Tod befaßte. Selbst als ich mich vorbeugte, empfand ich die Schönheit des Liedes und der Sängerin immer noch. Als ich sie aus der Nähe gesehen, als sie mich geküßt hatte, war ich der Meinung gewesen, sie besitze eine nymphenhafte, aber nicht außergewöhnliche Attraktivität. Nun erschien sie mir als blasse, vollkommene Vision der Schönheit. Während sie sang, liebte ich sie (und dabei war ich mir stets bewußt, daß mir das Gefühl zumindest teilweise aufgedrängt wurde), und ich wollte nicht, daß sie sterben mußte, niemals. Es drängte mich mit aller Macht, sie zu retten, sie vor den Beinhaus-Räubern zu verstecken. Aber, dachte ich, jeder wurde gefunden, wenn man ihn suchte. Ich begann zu weinen, und Mary weinte auch. Von meinen Gefühlen mitgerissen, machte ich den
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