Alicia II
heftiger emotionaler Spannung empfand. Mir war, als hätte ich den vorhin gelösten Kontakt nie unterbrochen.
Scheinwerfer gingen an und beleuchteten eine bereits im Gang befindliche Szene. Ein Schauspieler in konventioneller Straßenkleidung stand neben einer Frau, die sich in den letzten Zuckungen eines besonders schmerzhaften Todes wand. Hinter ihnen machte ein Chor die Bewegungen der Schauspielerin auf höhnische und übertriebene Art nach. Die Chorleute agierten wie groteske Clowns. Oft lachten sie in aufgeregtem Staccato.
Ich war froh, als das Mädchen sich dem letzten Atemzug näherte. Ich sah zu Mary hinüber, die von der Seite her auf die Bühne blickte, Kummer im Gesicht. Dauernd rieb sie sich die Stelle gleich unter ihrem linken Auge, so daß sich dort ein roter Fleck bildete. Zwei Schauspielerinnen gingen durch den Zuschauerraum. Jede trug einen kleinen, purpurn und gelb gestreiften Kasten. Als die eine an mir vorbeikam, bot sie mir an, mit mir Karten, Schach, Dame oder irgendein anderes Spiel zu spielen, das die Aufmerksamkeit von dem Hauptdrama ablenken würde. Sie machte den Vorschlag zuerst mit sinnlicher Stimme, dann in der Art eines fliegenden Händlers, der seine Waren ausruft. Rechts von uns nahm ein verängstigter Mann das Angebot der anderen Verkäuferin an.
Sie begannen mit einem Spiel, die Köpfe sorgfältig von der Bühne weggedreht.
Einen Augenblick früher, als die Schauspielerin auf der Bühne endgültig aufhörte, im übertriebenen Todeskampf um sich zu schlagen, trat bei mir ein plötzlicher Gefühlsumschwang ein. Tiefer Kummer lief in einer Welle über mich hin. Marys Kummer schien verschwunden zu sein, denn jetzt lächelte sie. Es verwirrte mich, daß wir so unterschiedlich auf die gleiche Szene reagierten. Die Schauspielerin lag still, und der Mann begann, durch den Zuschauerraum zu stolzieren. Eine Tür in der Decke öffnete sich, und Ballons segelten hernieder. Der Chor tanzte im Stil eines klassischen Balletts. Zuerst tanzten sie um das tote Mädchen herum, dann hoben sie es hoch und gaben es von Tänzer zu Tänzer weiter. Ich empfand Erhebung und rauschhafte Begeisterung. Mein Kopf war plötzlich voll von Gedichten, die gelesen zu haben ich mich nicht erinnern konnte, obwohl ich sicher war, daß sie aus klassischen Quellen stammten. Zusammen mit dem Chor feierte ich (und vermutlich das ganze Publikum) den Tod. Offenbar lieferte die Maschinerie des Kissens mehrere Impulse gleichzeitig, denn ich war mir auch der Tatsache bewußt, daß das, was ich feierte, eine traditionell religiöse Betrachtung des Todes war.
Ungeachtet meines eigenen religiösen Zynismus war ich jetzt überzeugt, daß, ganz gleich, wie blutig und schmerzhaft der Tod der Schauspielerin gewesen war, die ihr zuteil gewordene Verklärung alles rechtfertigte. Der Schauspieler, von dem ich wußte, daß er ihr Mörder war, blieb vor Mary und mir stehen.
Er starrte auf mich herunter und sagte: »Sie hat einen anständigen Tod gehabt, nicht wahr?«
Es setzte mich nicht nur in Verlegenheit, daß mich ein Schauspieler ansprach, der in der Handlung seines Stückes hätte bleiben sollen, es war mir auch unbehaglich zu Mute, weil er mich möglicherweise durchschaut, in mir den dreckigen Erneuerten, der ich in seinen Augen war, erkannt hatte. Dieses Gefühl zusammen mit ein bißchen Verwirrung drang in die Freude und Ekstase ein, die das Kissen aussandte.
»Ein Tod voller Glorie, nicht wahr?« fuhr er fort.
Ich nickte, und mir war, als dirigiere er mich an Schnüren.
Ich war mir vage bewußt, daß auch Mary nickte.
»Sir, Sie sehen aus wie eine weise Eule. Geben Sie Ihren Körper heute hin, lassen Sie sich von mir töten, vor Ihrer Zeit, bevor das Beinhaus Sie bekommt. Bringen Sie das System um einen weiteren Körper, und wir haben es ein weiteres Mal geschlagen. Kommen Sie, überlassen Sie sich mir. Ich kann Ihnen viele erfreuliche und schmerzhafte Abschiede von dieser Welt zur Auswahl stellen.«
Ich drückte mich gegen mein Kissen und fürchtete, jede Minute sterben zu müssen. Mary tat ebenso. Ganz offensichtlich hatte auch sie Angst vor seinem Angebot. Ich konnte nicht erkennen, ob unsere Angst natürlich oder uns von den Kissen übermittelt war. Statt weiter zu drängen, lächelte der Schauspieler.
»Nein, natürlich werden Sie mein Angebot nicht annehmen, niemand tut das. Wir alle stehen in eben dieser Minute vor dem Beinhaus an.«
Die Augen des Mannes schienen von einem inneren Licht zu leuchten. Um ihnen
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