Alicia II
Gebetskarten.
»Später sagte sie, die Stimmen seien dahingegangene Ausgemusterte. Sie sagte, sie wänden sich in Schmerzen, wenn sie über diese Erde streiften und ihre Schrecken sähen.«
»Sie streiften über die Erde? Meinst du Geister?«
»Nicht ganz, obwohl sie sich unter uns wie Geister bewegen. Aber das Wort schmeckt nach Aberglauben. Wir denken an sie lieber als an Seelen.«
»„Seelen“ hat die bessere Tradition, denke ich.«
»Bitte spotte nicht.«
»Verzeihung. Wirklich, ich wollte nicht spotten. Mir ist es immer unangenehm gewesen, daß das Wort ‚Seele’ für die Erneuerungsübertragung verwendet wird. Ich bin nur ein bißchen überrascht und verwirrt, diese Seite an dir zu entdecken.«
»Ich unterscheide mich nicht von anderen meiner Art. Der Glaube an St. Ethel hat sich in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren stark unter uns verbreitet, obwohl die große Mehrheit der Ausgemusterten immer noch eher weltlich eingestellt ist.«
»Erzähle mir mehr von ihr. Ich bin … seit langem nicht mehr auf dem laufenden und weiß von nichts besonders viel.«
Bru lächelte. Gerade genug, daß es freundlich wirkte, nicht genug, um mehr zu sein. Ihre Augen glitzerten und spiegelten das Flackern der Kerze wider, die sie angezündet hatte.
»St. Ethel sagte, die Seelen sagten, sie seien dazu verdammt, auf Erden zu wandeln, solange ihre Körper von Erneuerten benutzt würden. Obwohl die Zeit ihrer Wanderungen selten länger als hundert Jahre betrage, sagte sie, lasse die Leerheit ihrer Existenz sie ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen. Sie erlangten erst dann die Freiheit, wenn der Besitzer des Körpers seine Seele einem neuen Körper einpflanzen lasse. Und damit beginne der Kreislauf von neuem, denn der Eindringling zwinge eine andere Seele, eine Ewigkeit lang über die Erde zu wandern. Nur der vorzeitige Tod eines in Besitz genommenen Körpers könne die Erdenwanderungen der verdammten Seelen abkürzen.«
»Du sagtest, sie erlangen die Freiheit. Wohin gehen sie dann?«
»In den Himmel, sagte St. Ethel. Sie sagt, wir kämen alle in den Himmel.«
»Ist das nicht besser als das, was die meisten Religionen zu bieten haben? Das Fegefeuer kann Jahrhunderte dauern, die Hölle für immer. Eine relativ kurze Zeit mit der Auflage, über diese Erde zu wandern, und dann ewige Erlösung im Himmel. Kein schlechter Handel, finde ich.«
»Es gibt Leute, die dem widersprechen würden, aber ich bringe es nicht über mich, Facetten meines Glaubens so kaltherzig zu diskutieren. Nach St. Ethel steht uns der Himmel nur deshalb offen, weil der Mensch in Gottes eigene Pläne für uns hier auf der Erde eingegriffen hat. Sie sagte, Er habe uns bestimmte Lebensspannen zugestanden – die grundlegende Vorbestimmung, so wird es manchmal genannt. Diese Lebensspannen würden durch den Erneuerungsprozeß verkürzt, und das sei Sünde in Seinen Augen. Später sagte sie, während Er uns den Himmel öffne, verdamme er diejenigen, die sich unsere Körper aneigneten, zur Hölle. Siehst du, deshalb drängt es euch so zur Unsterblichkeit. Sobald ihr euer Recht auf Erneuerung aufgebt oder verliert, kommt ihr in die Hölle, wo euch all das über die Jahrhunderte angesammelte Leid zuteil wird.«
»Puh! Das ist ziemlich starker Tobak. Für mich ist es besser, ich glaube nicht an deine Religion. Der Gedanke an hoffnungslose ewige Verdammnis gefällt mir gar nicht.«
»Aber du bist nicht auf ewig verdammt. Nicht unbedingt!«
Ich trat einen Schritt von Bru zurück. Bekehrungseifer leuchtete aus ihren Augen, das geistliche Allheilmittel klang aus ihrer sanften, aber wohlgeschulten Stimme.
»Du hast die Fähigkeit zu bereuen. Wenn du dein Leben widerrufst und deinen Körper aufgibst, um die Seele seines rechtmäßigen Besitzers zu befreien, und den Wegen deiner Art entsagst, kannst du vor der Hölle errettet werden – und nach einer Zeit der Schmerzen, die der Schwere deiner Sünden entspricht, wirst auch du in den Himmel eingelassen.«
»Das ist gnädig, kann man sagen.«
Ihre Stimme, die auf der Bühne so weich und einschmeichelnd geklungen hatte, war jetzt die harte und mächtige Stimme des echten Gläubigen. Oder des Fanatikers.
Ich begann um meine Sicherheit zu fürchten. Vielleicht sollte ich versuchen, wieder auf die Straße zu gelangen. Ich hatte es bereits geschafft, Marys Absichten falsch zu deuten. Wie konnte ich bei Bru, meiner Retterin, sicher sein?
»St. Ethel brachte uns die Botschaft während eines und eines halben Jahrzehnts
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