Alicia
sprengte davon.
Alicia wußte später nicht mehr, wie lange sie einsam auf der Klippe verweilt und vor sich hingestarrt hatte.
»Wer war das? « fragte Stephen behutsam.
Sie sah hoch und war nicht überrascht, daß Stephen neben ihr stand. So oft war er schon in ihrer Nähe gewesen, ohne daß sie sich seiner Gegenwart bewußt geworden war. »Mein Bruder«, sagte sie leise.
»Davey? « fragte er interessiert und sah dem galoppierenden Pferd nach.
Sie sagte nichts darauf.
»Hast du ihn gebeten, nach Larenston zu kommen? « fuhr er fort. »Hast du ihm gesagt, daß die Tore für ihn stets offen stehen? «
»Du mußt mir nicht sagen, was ich meinem eigenen Bruder mitzuteilen habe. « Sie wandte sich ab, Tränen in den Augen.
Er faßte sie am Arm. »Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. «
Sie wollte sich von ihm lösen, doch er riß sie an sich.
»Es war falsch von mir, dich zu verfluchen, als ich Chris’ Leiche fand«, sagte er leise. »Ich war nur so wütend, daß ich irgend jemand dafür anprangern mußte. Ich tat dir unrecht. «
Sie preßte ihr Gesicht an seine Brust. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung. »Nein! Du hattest recht! Ich habe deinen Freund und meine Männer getötet. «
Er zog sie an sich und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Schultern waren so schmal und zerbrechlich. »Nein, die Verantwortung ist zu groß für dich. « Er hob ihr Kinn an. »Schau mir in die Augen. Ob du es glaubst oder nicht — wir teilen uns die Last. Ich trage auch einen Teil der Schuld am Tod dieser Männer. «
»Aber ich allein habe schuld! « sagte sie verzweifelt.
Er legte ihr den Finger auf die Lippen und spähte in ihr Gesicht. »Du bist so jung, nicht einmal zwanzig; doch du versuchst, für Hunderte von Leuten zu sorgen, sie selbst vor mir zu schützen — vor einem Mann, der ja auch, wie du glaubst, ein Spion sein könnte. «
Er lachte, als ihr Gesicht sich veränderte. »Ich fange an, dich zu verstehen. Im Augenblick denkst du, ich habe noch andere Motive, so mit dir zu reden. Du glaubst, ich plante einen Verrat und möchte dich nur mit süßen Worten einlullen. «
Sie wich vor ihm zurück. Seine Worte trafen ihre Gedanken so genau, daß sie fast erschrak über seine Fähigkeit, sie zu lesen.
Er lachte tief und leise. »Bin ich meiner Heimat zu nahe? Du möchtest, daß ich ein Fremder bleibe in deinem Klan, nicht wahr? Jemand, den du unbeschwert hassen kannst. Ich habe nicht vor, dich so lange alleinzulassen, daß du vergißt, daß ich vor allem ein Mann bin — nicht nur ein Engländer. «
»Du — du redest Unsinn. Ich muß nach Larenston zurück. «
Er achtete nicht auf ihre Worte, sondern setzte sich ins Gras und zog sie neben sich nieder. »Morgen brechen wir nach England auf. Was ist das für ein Gefühl für dich, meine englische Familie kennenzulernen? «
Sie starrte ihn an. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. « Ihre Augen sprühten blaue Blitze, als sie sich wieder ihrer Gefangenschaft in Thomas Crichtons Haus entsann. »Ich mag die Engländer nicht. «
»Du kennst sie nicht! « gab Stephen heftig zurück. »Du hast nur den Abschaum kennengelemt. Ich schämte mich meiner Landsleute, als ich sah, wie du in Sir Thomas’ Haus behandelt wurdest. «
»Aber keiner deiner Landsleute ließ mich in meinem Hochzeitskleid am Traualtar warten. «
Er lachte glucksend. »Das wirst du mir wohl nie verzeihen, wie? Vielleicht verzeihst du mir, wenn du meine Schwägerin Judith kennenlernst. «
»Wie… wie ist sie? « fragte Alicia vorsichtig.
»Schön! Gütig und von angenehmem Wesen. Klug. Sie leitet Gavins Geschäfte. König Heinrich hatte eine hohe Meinung von ihr. Er hat sie mehr als einmal um Rat gefragt… «
Alicia seufzte schwer. »Es ist gut zu hören, daß jemand seine Pflichten nicht vernachlässigt und fähig ist für ein Regiment. Ich wünschte, mein Vater hätte eine Tochter, die den Titel Laird verdiente. «
Er lachte und zog sie auf das Gras nieder. »Als Frau bist du eine außergewöhnlich befähigte Klanchefin. «
Sie blinzelte. »Als Frau? Soll das heißen, du hältst keine Frau dazu befähigt, Anführer eines Klans zu sein? «
Er zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls nicht eine so blutjunge und hübsche Frau, die auf ihr Amt nicht richtig vorbereitet ist. «
»Nicht richtig vorbereitet! Ich habe mein ganzes Leben nur mit Lernen verbracht! Du weißt, daß ich besser lesen und rechnen kann als du! «
Er lachte. »Zum Regieren von Männern gehört mehr
Weitere Kostenlose Bücher