Alicia
dieser vertrauten Stimme zu entkommen. Erst als der Mann auf gleicher Höhe mit ihr ritt, erkannte sie ihren Irrtum. Es war ihr Bruder, der sie beim Namen gerufen hatte.
»Davey«, flüsterte sie, während sie scharf am Zügel ihres Pferdes riß.
Davey sah sie grinsend an. Er war so groß wie seine Schwester, hatte die schwarzen Haare von ihrem Vater geerbt, die braunen Augen von seiner Mutter. Er war hagerer, als Alicia ihn in Erinnerung hatte, und in seinen Augen flackerte ein Licht, das von einem inneren Brand herrühren mußte. »Du hast geweint«, sagte er. »Wegen der Männer, die MacGregor erschlug? «
»Du weißt davon? « sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Augen aus.
»Es ist immer noch mein Klan, wenngleich mein Vater es anders bestimmte. « Für eine Weile wurden seine Augen hart und kalt, bis dieses flackernde Licht sich wieder zeigte: »Ich habe dich lange nicht mehr gesehen. Setz dich zu mir und gönne deinem Pferd eine Rast. «
Mit einem mal schien ihr Bruder ein lang entbehrter Freund zu sein, und sie schob die Erinnerung an seinen letzten Auftritt weit von sich — die Nacht, als Jamie MacArran sie zu seinem Nachfolger bestimmte. Es war eine unerwartete Ernennung gewesen und deshalb um so schmerzlicher. Der ganze Klan hatte sich versammelt und wartete, daß Davey zum nächsten »Laird« ausgerufen würde. James MacArran war stets ehrlich gegen sich selbst und besonders vorurteilsfrei in der Einschätzung seiner Kinder gewesen. Er sagte dem Klan, was er von seinen Kindern hielt. Davey liebte den Krieg. Er schätzte ein Gefecht höher ein als den Schutz seines Klans. Er sagte, Alicia habe ein zu hitziges Temperament und handele oft unüberlegt. Beide Kinder fühlten sich zutiefst beschämt von der Kritik ihres Vaters. Jamie fuhr fort, daß Alicias Fehler ausgeglichen werden könnten, falls ihr ein besonnener Ehemann zur Seite stünde wie zum Beispiel Ian, Ramsey oder Ennis. Selbst nach dieser Einleitung ahnte noch niemand, was Jamie vorhatte. Als er Alicia zu seiner Nachfolgerin kürte, war es ganz still in der Halle. Dann hoben die Männer nacheinander die Becher, um ihr zuzutrinken. Davey brauchte einen Moment, bis er begriff, was sich hier vollzog. Dann sprang er auf, verfluchte seinen Vater, nannte ihn einen Verräter und sagte sich als Sohn von ihm los. Er forderte die Männer auf, ihm zu folgen. Zwölf junge Männer verließen in dieser Nacht die Halle, um sich Davey anzuschließen.
Seit jener Nacht hatte Alicia ihren Bruder nicht mehr gesehen. Inzwischen war viel geschehen — ihr Vater tot und die Männer, die er ihr zum Gatten bestimmt hatte. Sie war mit einem Engländer verheiratet worden. Plötzlich schien alles, was Davey damals sagte, unwichtig geworden zu sein.
Sie stieg vom Pferd und legte die Arme um ihn. »Oh, Davey, alles hat sich zum Schlimmen entwickelt«, klagte sie.
»Der Engländer? «
Sie nickte an seiner knochigen Schulter. »Er hat alles verändert. Heute sahen mich meine Männer an, als sei ich der Eindringling. Ich las es in ihren Augen. Sie gaben ihm recht und mir unrecht. «
»Willst du damit sagen, er hetzt die Männer gegen dich auf? « fauchte Davey und wich von ihr zurück. »Wie konnten sie nur so verblendet sein? Er muß ein sehr guter Schauspieler sein, wenn er sie das Entsetzen über den Tod unseres Vaters vergessen läßt. Und Ian? Will sich selbst Tam nicht mehr daran erinnern, daß die Engländer seinen Sohn erschlugen? «
»Ich weiß es nicht«, sagte Alicia, als sie sich auf einen umgestürzten Baum setzte. »Sie scheinen ihm alle zu vertrauen. Er kleidet sich wie ein Schotte. Er übt mit den Männern. Er mischt sich sogar unter die Bauern. Er scherzt und trinkt mit ihnen. Ich weiß, daß sie ihn mögen. «
»Aber hat er denn durch Taten bewiesen, daß er ihr Vertrauen verdient? «
Sie drückte die Hände gegen die Schläfen. Ihr wollten die vier Männer nicht aus dem Kopf, die verstümmelt vor ihr auf der Erde lagen. War sie an deren Tod schuld? »Er hat nichts getan, das sie argwöhnisch machen könnte. «
Davey schnaubte: »Davor wird er sich hüten! Er wird warten, bis er das Vertrauen deiner Männer gewonnen hat, ehe er die Engländer hierherbringt. «
»Engländer? Wovon redest du eigentlich? «
»Begreifst du denn nicht? « sagte Davey mit großer Geduld. »Plant er nicht, in nächster Zeit nach England zurückzukehren? «
»Ja«, sagte sie betroffen, »er hat vor, in ein paar Wochen mit mir zu seiner Familie zu reisen.
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