Alien 2: Verborgene Harmonien
Dokumentation
darzustellen, könnten einige der Ereignisse, die wir im Detail
schilderten, irrelevant erscheinen, während andere, die wir nur
streiften, vielleicht von Ihnen als sehr bedeutsam angesehen werden.
Aber vergessen Sie bitte nicht, daß wir mitten in der Zeit
leben, die für Sie schon Geschichte ist. Wenn Ihnen das, was
noch folgt, wie fast jedes politische Traktat voreingenommen
erscheinen mag, müssen wir zu unseren Gunsten anführen,
daß es unsere Lebensumstände sind, die wir Ihnen mit
dieser Aufzeichnung ein wenig nahebringen möchten.«
Unwillig wischte de Ramaira mit der Hand über den Schalter
des Aufnahmegeräts und ließ sich in seinen Sessel
zurücksinken. Damit kam er nie durch. Der Assessor, der alles,
was in die Zeitkammer gelegt werden sollte, durchsah, war
schließlich Politiker. Nein, es war wirklich besser, die ganze
Sache nochmals von vorn zu beginnen. Es war keine Einführung in
die wahren Verhältnisse, sondern eine verdrehte Apologie der
›offiziellen Historie‹, die die Partei der
Konstitutionalisten in der Kammer für die Nachwelt erhalten
sehen wollte, ruhmredige Propaganda für eine längst
verlorene Sache.
De Ramaira trug seinen Rum mit Milch zu dem schmalen Fenster
seines Studierzimmers. Die Straßenlaternen brannten nicht, aber
im Altstadtviertel funktionierten sie ohnehin selten genug.
Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten. Der größere von
Elysiums beiden Monden war noch nicht untergegangen, aber so
wolkenverhangen, daß die Nacht nur von den vereinzelt
erleuchteten Fenstern um den kahlen Park herum erhellt wurde.
In knapp vier Wochen war Neujahr. De Ramaira hatte sich nie
richtig an Elysiums rascher wechselnde Jahreszeiten gewöhnen
können. Er fühlte eine leise Wehmut in seiner Brust
aufkeimen: Erde.
»Eine schöne Objektivität, die ich da an den Tag
lege«, sagte der Schoßweltler laut und wunderte sich
über den fremden Klang seiner Stimme in dem stillen, schwach
erhellten Zimmer. Er wandte sich vom Fenster ab. Sein Blick fiel auf
den blauen Hefter auf dem niedrigen Tisch neben dem Sessel. Wenn
nicht Krieg wäre, dachte de Ramaira, wären die Folgerungen
aus der ganzen Angelegenheit wahrhaft erschreckend –
personifiziert dargestellt vergleichbar mit einem Mann, der am Abend
vor seiner Hinrichtung in der Leistengegend einen verdächtigen
Knoten entdeckt. Daran sollte er arbeiten, solange es noch
möglich war, anstatt seine kostbare Zeit damit zu vertun, Savory
nach dem Mund reden zu wollen.
Nicht zum erstenmal an diesem Tag dachte er an Richard Florey
irgendwo dort draußen in der endlosen Wildnis vor den Toren von
Port of Plenty. Aber diese Möglichkeit zum Verlassen der Stadt
war inzwischen auch blockiert. Die Cops hatten vor einer Woche den
letzten Kurier erschossen. Es wäre ohnehin kein Fluchtweg
gewesen, den de Ramaira unbedingt gewählt hätte. Zu vieles
hing dabei von Dritten ab.
Doch solche Überlegungen brachten ihn keinen Schritt weiter.
De Ramaira nahm seinen alten Platz wieder ein. Es gab mehr als genug
zu tun, und ihm blieb nur wenig Zeit.
Es galt als fast sicher, daß die Insurgenten noch vor
Neujahr die Stadt überrennen würden. Ihr Vorrücken in
die verlassenen halbfertigen Verteidigungsanlagen und die
Kuppel-Vorstädte vollzog sich zwar langsam, aber unaufhaltsam.
Die eingekesselte Stadt wurde ganz allmählich von den Rebellen
geschluckt. Die Polizei, Lymphozyten in weißen Overalls, war
nicht mehr stark genug, die unvermeidlichen Durchbrüche zu
verhindern, und die Freiwilligen Verteidigungs-Streitkräfte
erwiesen sich als Totalausfall. Selbst bei den kleinsten
Scharmützeln liefen sie kopflos in wilder Panik davon. Die
Stadtbewohner hatten zu lange zu gut gelebt, waren verweichlicht und
hatten zu fest auf eine klare Aufteilung der Macht und damit auch der
Zuständigkeiten gebaut. Die Insurgenten mußten sich nicht
mit solchem Ballast plagen. Sie kämpften, wie es von ihnen
erwartet wurde, und sie kämpften gut.
De Ramaira leerte das Glas halb und stellte es neben den Recorder.
Die Einleitung mußte bis morgen fertig und abgesegnet sein,
wenn die Zeitkammer nach Plan versiegelt und zum Ende aller Dinge
für ihr ›Begräbnis‹ bereit sein sollte. Und dann
war da auch noch die andere Sache, deren unendlich subtile,
verzweigten Möglichkeiten und Erkenntnisse so viel interessanter
waren als die falschen Kompromisse für die Kammer und ihren
Inhalt, und den Reiz des Rätsels wiedererweckten, dessen
Lösung er hatte zurückstellen
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