Alien Earth - Phase 1
Nacht, in Erwartung der nächsten Sternschnuppe. Dieses Mal würde es keine Flyboy-Maschine sein, sondern ein Alien-Artefakt.
Artefakt. Ein enger Begriff von ungeheurer Weite. Gemeinsam waren allen Artefakten drei Dinge: Form und Größe sowie das Material, aus dem sie gefertigt waren. 98,1 Prozent - Rudis Ausbilder hatten eine ausgeprägte Vorliebe für exakte Zahlen besessen und sich nie mit einem ungefähren Wert zufriedengegeben - der bislang geborgenen und bekannt gewordenen Artefakte besaßen dieselbe Größe und Form. Sie waren wuchtige Kreuze mit einer Tiefe von 2,41 Metern, einer Höhe von 2,37 Metern und einer Länge von 5,21 Metern. Ihre Form hatte anfangs für erheblichen Aufruhr gesorgt. Christen hatten in den Alienkreuzen entweder einen Beleg für die christliche Gesinnung der Aliens gefunden oder darin eine Blasphemie gesehen, deren anmaßender Frevel in über 2000 Jahren christlicher Geschichte ohne Beispiel war. Andere, weltlichere Naturen hatten sie auf ihre Weise gedeutet. Betrachtete man ein Alien-Artefakt von oben, besaß es dieselbe Form wie das Symbol des Roten Kreuzes. Konnte das ein Zufall sein? Unmöglich, befanden viele, während Spötter sich den Hinweis nicht nehmen ließen, dass das Alien- und Schweizer Kreuz in der Draufsicht eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit besaßen. Das konnte ebenfalls unmöglich ein Zufall sein, nicht wahr?
Es waren müßige Diskussionen gewesen - in die Artefakte ließ sich hineinlesen, was man wollte -, aber tödlich ernste. 2059, das Jahr, in dem die Artefakte erstmals auf den Pazifik herabgeregnet waren, hatte mehrere zehntausend Menschen das Leben gekostet - Opfer von Demonstrationen, religiös motivierten Morden und Pogromen. Abgesehen von dem Bürgerkrieg, den die Deutung der Artefakte in Uganda ausgelöst hatte. Wie viele Opfer er gekostet hatte, war unklar. Er dauerte an.
Was immer die Form zu bedeuten hatte, das Alienkreuz verbreitete sich rasch. Hunderte von christlichen Splitterkirchen
nutzten es als Symbol, AlienNet und Alienisten bedienten sich seiner, ebenso die Company. Jeder las das hinein, was er wollte.
Die Materialfrage dagegen hatte sich als unstrittig erwiesen. Alle Artefakte bestanden aus derselben Legierung, die hitze- und formbeständig genug war, um der Reibungshitze beim Sturz durch die Erdatmosphäre standzuhalten. Es handelte sich weder um einen Wunderstoff noch um eine Erweiterung des Periodensystems, noch um ein bisher unbekanntes Element, nein, Titan, mit einer Beimengung von Kupfer. Nichts, was irdische Luft- und Raumfahrttechnik nicht längst hervorgebracht gehabt hätte, kein sensationeller Durchbruch. Wenn es eine Sensation gab, dann die Frage, wie die Aliens es anstellten, die Legierung in derart großen Mengen im Weltraum herzustellen. Es musste auf dem Mars und den Saturnmonden und möglicherweise einigen anderen Orten des Sonnensystems geschehen, verborgen vor den Blicken der Menschheit.
Verborgen wie die Antwort auf eine weitere Frage: Was transportierten die Artefakte?
Die vorläufige Antwort, die die Company in den acht Jahren ihres Bestehens hatte ermitteln können, war nicht akzeptabel. 37 der 38 Artefakte - oder 97,36 Prozent -, die Flyboys für die Company hatten sichern können, hatten nach menschlichem Ermessen lediglich ein Gut befördert: nichts. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Die Denkweise der Aliens musste radikal von der menschlichen abweichen, niemand, der einen klaren Kopf besaß, erwartete etwas anderes, aber Dutzende oder mehr Lichtjahre zurückzulegen, um sich anschließend darauf zu beschränken, leere Container in Kreuzform abzuwerfen … undenkbar.
Es musste eine andere Erklärung für die leeren Alienkreuze geben. Vielleicht patrouillierte die Company am falschen Ort. Dass sie es im praktischen Sinn tat, war jedem ihrer Angehörigen klar: Die Amerikaner herrschten über die Kernzone der Artefakt-Einschläge. In den Außenbereichen, wie der Zone
der Company, ging nur ein Bruchteil nieder. Handelte es sich bei ihnen um die schlecht gezielten, die überflüssigen, die au ßer Kontrolle geratenen Artefakte? Jagte die Company dem nicht repräsentativen Ausschuss hinterher?
Artefakt 22 sprach dafür. A-22 war am Ostersonntag 2063 zwischen Nanomea und Nukufetau niedergegangen, so gleichmäßig zwischen den beiden Stützpunkten platziert, als handele es sich bei dem Artefakt um ein Ostergeschenk für die Company. Und als Geschenk hatte es sich erwiesen: In dem Artefakt hatten sich
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