Alien Earth - Phase 3
und bald auch, wenn die Attacke vorüber war. Diane ließ es zu. Mehr noch, sie sehnte sich nach ihrer Berührung. Diane brauchte den Trost, einen anderen Menschen zu spüren, um nicht aufzugeben.
Atsatun redete viel. Das Mädchen füllte die Leere zwischen den Schmerzattacken mit belanglosem Geplapper. Es war das Letzte, was Diane ausstehen konnte. Eigentlich. Die Welt, in der sie aufgewachsen war, hatte aus nichts anderem als belanglosem Geplapper bestanden. Es war ein klebriger, süßer Brei gewesen, der die Gesellschaft zusammengehalten hatte, eine Tünche, die hatte überdecken sollen, wie ungerecht das Leben war, und die dazu geführt hatte, dass alles so geblieben war, wie es immer gewesen war. Nur: Das hier war nicht der wiederauferstandene Süden, die große, endlose Cocktailparty, gewürzt von dem Schweiß der Plantagenarbeiter, deren Knebelverträge sie schlechter stellten als die Sklaven, die Jahrhunderte vor ihnen in demselben Land geschuftet hatten. Das hier war der graue, leere Pazifik. Der Ort, an dem Diane sterben würde, sollte kein Wunder geschehen. Und Wunder, war sich Diane sicher, gehörten nicht in das Repertoire von naiven Mädchen, die aus einem Häftlingslager ausgebrochen waren. Hätte Diane nicht zufällig Atsatun getroffen, wäre sie längst so gut wie tot. Der Pazifik war scheinbar endlos und interessierte sich nicht für das Schicksal von Mädchen, die sich in ihm verirrten.
Atsatun brauchte sie, Diane.
Und sie, Diane, brauchte Atsatun.
Also spielte Diane ihr Spiel mit. Sie bewunderte die Fische, die Atsatun ihr im Licht ihres Kokons zeigte, ging auf jede Bemerkung des Mädchens über die wechselnden Lichtverhältnisse
unter dem Ozean ein - es gab hier unten kein Wetter, über das sie hätten plaudern können -, lauschte, wie Atsatun von ihrer Kindheit erzählte. Das Mädchen war in einer alten Mühle aufgewachsen, zusammen mit vielen anderen Kindern. Sie waren frei gewesen. Die Kinder hatten nichts anderes zu tun gehabt, als zu spielen, die Mühle, die Lichtung und den Wald, der sie umgab, zu erforschen. Es waren fantastische Geschichten. Atsatun erzählte nie von Eltern, nur von anderen Kindern - es mussten Dutzende sein -, und es wurde nie klar, worum es sich bei ihnen eigentlich handeln sollte. Waren es Geschwister? Oder Freunde? Oder Angehörige derselben Gemeinschaft? Die Kinder schienen zu eng miteinander verbunden, um etwas anderes als Geschwister zu sein, aber gleichzeitig waren es viel zu viele, als dass sie leibliche Geschwister hätten sein können. Und der Wald, von dem Atsatun erzählte, kam direkt aus einem Märchen. Er war wohlwollend, meinte es gut mit den Kindern. Nachts leuchteten seine Stämme, damit sich die Kinder nicht verirrten, und an jedem Baum wuchsen Früchte, die man essen konnte. Und hatte man keine Lust auf Früchte, aß man eben die Rinde oder die Blätter.
Atsatuns Geschichten waren offensichtlich Erfindungen einer überbordenden Fantasie, aber Diane behielt den Gedanken für sich. Sie fand Trost darin, Atsatun zuzuhören. Für kurze Zeit vergaß sie ihre Sehnsucht, noch einmal Melvin zu sehen, und den Krebs, der sie auffraß. Und ihr Zuhören musste seinerseits das Mädchen trösten. Diane konnte sich nur auszumalen, was sich hinter Atsatuns Worten verbarg, aber sie war sich sicher, dass die Wirklichkeit alles andere als märchenhaft gewesen war. Dianes Kindheit hatte nichts Märchenhaftes an sich gehabt, und sie war noch niemandem begegnet, auf den es zutraf, sah man genauer hin. Was blieb dem Menschen schon, als in Fantastereien zu fliehen?
So vergingen Tage, während Diane und Atsatun Melvins Leitstern folgten. Schwammen sie an die Oberfläche, sahen sie vereinzelte Eisschollen und -berge. Das, zusammen mit dem
Land, das sich im Westen von ihnen abzeichnete, brachte Diane zu dem Schluss, dass sie im hohen Norden angekommen waren. Setzten sie ihren Weg fort, würden sie auf die äu ßersten Westausläufer Sibiriens stoßen. Lebte Melvin hier? Aber wie konnte das sein? Ohne die Hilfe der Seelenspringer wäre es unmöglich. Doch was sollten sie hier verloren haben?
Diane fand keine Antworten.
Und dann - Melvins Stern war beinahe so groß geworden wie der Vollmond - rutschte Diane dem Tod in die Arme. Die Stichflamme in ihrem Magen setzte wieder ein - und brannte und brannte und brannte. Diane schlug um sich. Diane rollte sich zusammen. Diane würgte. Magensaft, gemischt mit Blut, brannte in ihrem Hals, stieg ihr in den Mund, aber sie konnte sich
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