Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Bailics Frühstück im Übungsraum verspäten. Schlimmer noch, Strell war nicht zum Frühstück heruntergekommen und würde sich ebenfalls verspäten.
Vielleicht, überlegte sie, sollte sie ihn wecken? Errötend streute sie Mehl über die Arbeitsplatte und walkte den Teig zu einem Rechteck aus. Hinaufzugehen und Strell zu wecken wäre unklug. Als sie das einmal versucht hatte, hatte sie einen Blick auf seine nackten Füße erhascht. Bein und Asche, man sollte doch meinen, dass ein wohlerzogener Tiefländer so viel Anstand besaß, mit züchtig verhüllten Füßen zu schlafen. Ebenso gut hätte sie ihm nackt im Regen begegnen können. Vielleicht kam das daher, dass er die vergangenen sechs Jahre als Wandermusikant verbracht hatte. Wie auch immer – wenn er nicht bald herunterkam, würde er das Frühstück ausfallen lassen müssen.
Sie entschied, dass sie nicht länger auf Strell warten konnte, schnitt eine Scheibe Brot ab und legte sie über das Feuer, um sie für ihr eigenes Frühstück zu rösten. Kralle schüttelte mit kaum hörbarem Rascheln ihr Gefieder. »Warum fliegst du nicht nach oben und weckst Strell?«, flüsterte Alissa halb im Ernst, und der Vogel flatterte ins Gebälk.
Der Gedanke an Strell ließ Alissas Blick zum Spiegel huschen. Sie hatte Mehl an der Nase, und da Strell sie sicher damit aufziehen würde, wenn er es sähe, wischte sie es hastig ab. Er hatte den Spiegel vor Wochen gefunden und in der Küche aufgestellt, mit der Begründung, so habe sie mehr Licht. Ihr war bisher kein Unterschied aufgefallen, doch der Spiegel bot ihr einen Blick auf den Speisesaal, wenn sie mit dem Rücken zum Durchgang am Feuer stand. Der große, schlaksige Tiefländer schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sie zu beschützen, obwohl sie darauf beharrte, dass sie sehr wohl selbst auf sich aufpassen konnte.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie im Dämmerlicht des frühen Morgens ihr Spiegelbild, raffte ihr glattes blondes Haar zusammen und band es wieder zurück. Ihr Haar machte sie verrückt, und Strell weigerte sich, es abzuschneiden, denn er war der Meinung, eine wirkliche Dame müsse auf ihrem Haar sitzen können. Das war eine Tradition des Tieflandes, und zwar eine, von der sie nichts hielt. Sie trug ihr Haar lieber kurz, wie es ihrem Papa gefallen hatte, der aus dem Hochland stammte. Ihrer Mutter allerdings hätte es so lang gefallen. Es streifte bereits ihre Schultern.
Das Beutelchen, das sie an einer Schnur um den Hals trug, lugte aus ihrem Kittel hervor. Nervös verbarg sie es wieder darunter und warf einen Blick auf den Speisesaal hinter ihr. Sie war nicht sicher, doch sie glaubte, der Staub in dem Säckchen könnte ihre Quelle sein – die Kugel aus purer Kraft, die sie in ihren Gedanken gefunden hatte, irgendwo zwischen Wirklichkeit und Imagination. Eines Tages würde sie diese Kugel und das silbrige Netz, das sie vor ihrem inneren Auge sehen konnte, dazu benutzen, Banne zu schaffen. Falls Bailic erführe, was das Säckchen enthielt, würde er es ihr ganz sicher wegnehmen und sie noch bedenkenloser ermorden, als er ihren Vater getötet hatte.
Alissa rang gequält nach Atem und schob die Erinnerung an ihren Papa entschlossen beiseite. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, war er gestorben, um zu verhindern, dass Bailic von ihrer Existenz erfuhr. Bailic wusste bis heute nicht, wessen Tochter sie war, und falls er es je herausfand, wäre ihr Leben nicht mehr die süßen Brötchen wert, die sie gerade buk. Sie wandte sich wieder ihrem Teig zu und strich eine dünne Schicht Honig auf das gleichmäßig ausgerollte Viereck. Sie hatte so lange mit der Gefahr gelebt, dass ihre Angst offenbar ziemlich abgestumpft war.
Ein leicht verbrannter Geruch schlich sich störend in ihre trübseligen Gedanken. Doch erst als Kralle fröhlich zwitscherte, blickte Alissa auf und sah ihr Frühstück verkohlen. »Bei den Hunden!«, rief sie, schwang die Röstgabel vom Feuer und versuchte vergeblich, mit einem Tuch die verkohlten Stellen von ihrem Brot zu wischen. Kralles Gezwitscher hörte sich beinahe an wie ein Lachen, und Alissa gab auf. Sie zog die Scheibe von der Röstgabel und ließ sie auf den wartenden Teller fallen. Ruiniert. Sie starrte die schwarze Scheibe an und überlegte, ob sie sie trotzdem essen sollte. Als sie sich das letzte Mal geweigert hatte, eine Scheibe verbranntes Brot zu essen, hatte das zur Folge gehabt, dass sie sich noch vor Sonnenuntergang desselben Tages einen halben Berg weit weg von zu
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