Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
hindern, es dir wieder wegzunehmen? Es ist Winter, Alissa. Wir können nirgendwohin! Selbst bei gutem Wetter braucht man von hier bis an die Küste drei Wochen. Und der Schnee liegt schon knietief.«
Alissa wich seinem Blick aus. »Ich habe das Warten so satt«, klagte sie.
»Aber dein Leben dafür aufs Spiel setzen? Es ist nur ein Buch.«
»Es ist nicht nur ein Buch!«, schrie Alissa, die selbst nicht verstand, wie das Ding sie so im Griff haben konnte. Seit sie es aus seinem Versteck gezogen hatte, schien es ihr, als enthalte es etwas, das sie dringend brauchte. Dabei vermisste sie ja gar nichts. Sie war verwirrt und wollte nicht mehr mit ihm darüber streiten, also klopfte sie sich das Mehl von den Händen und ergriff Bailics halb leeres Tablett.
Strell stand sofort hinter ihr. »Wo willst du denn hin? Wir sind noch nicht fertig.«
»Hinauf in den Übungsraum«, erklärte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Du bist spät dran, weißt du? Wie wäre es, wenn du das Tablett für mich mit hinauf nimmst?«
»Das mache ich, aber versuch nicht, das Thema zu wechseln.« Er nahm ihr das Tablett ab und stellte es wieder hin. Alissa sank in sich zusammen. »Sei doch vernünftig, Alissa«, redete er ihr zu, und seine Stimme klang plötzlich viel weicher. »Wir können nirgendwohin, selbst wenn du dein Buch in die Hände bekommen könntest. Und wenn er dich erwischt, wird er dich töten. Er hat schon zuvor um dieses Buches willen gemordet.«
Ihr stockte der Atem, und sie fühlte sich jämmerlich. Sie gerade jetzt an den Tod ihres Papas zu erinnern war unfein. »Ich weiß, Strell«, sagte sie. »Hör auf damit.« Ganz kurz begegneten sich ihre Blicke, als er einen Finger unter ihr Kinn legte und ihr Gesicht sacht zu sich umwandte. Seine besorgte Miene überraschte sie. Es schien beinahe, als hätte er Verständnis für sie. Vielleicht stimmte das auch. Er wusste, was Verlust bedeutete. Das war leicht zu vergessen, weil er sich seinen Schmerz nie anmerken ließ.
»Es tut mir leid«, sagte er sanft. »Aber du hattest bereits irgendeinen Plan, wie du es dir holen wolltest, nicht wahr?«
Sie schlug die Augen nieder. Darauf konnte sie nichts erwidern. Sie wusste nicht, ob sie sich würde zurückhalten können, falls sie ihr Buch je unbewacht irgendwo liegen sah.
Strell ließ sie los und wandte sich ab, anscheinend ebenso frustriert wie sie. »Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll«, sagte er leise, aber drängend, »außer zu warten. Meister Talo-Toecan wird schon wissen, was er tut. Ihm wird sicher etwas einfallen.«
Talo-Toecan, dachte sie finster. Für sie war er Nutzlos, und das würde er auch bleiben.
Ein wütendes Fauchen drang aus dem Gebälk herab. Alissa blickte auf und sah, dass Kralles Gefieder gesträubt war wie das Nackenfell eines Hundes. Sie starrte an ihnen beiden vorbei zum offenen Durchgang zum Speisesaal. Ein leiser Ruf hallte bis in die Küche, und Alissa und Strell wechselten einen besorgten Blick. »Das ist Bailic«, sagte sie und legte ihr geröstetes Brot, das sie noch nicht angerührt hatte, auf sein Tablett. Ihr war der Appetit vergangen.
»Nun, sonst ist ja niemand mehr da, oder?« Strell sagte das wie im Scherz, griff jedoch sogleich nach dem Tablett und wandte sich zum Gehen.
»Ich mache meine Brötchen fertig und komme dann nach«, sagte Alissa, deren Wagemut und Kühnheit angesichts der kalten, erschreckenden Wirklichkeit verpufften. Bailic hatte die Konditionierung gebrochen, die Bewahrer davon abhielt, mit Bannen anderen zu schaden, und mit Hilfe seines Selbststudiums magischer Mordmethoden die Feste von Schülern und Bewahrern leer gefegt. Wenn es ihr nicht gelang, ihr Begehren nach diesem Buch vor ihm geheim zu halten, würde Bailic die Täuschung durchschauen. Unauffälligkeit war ihr einziger Schutz, so lange, bis Nutzlos sie gelehrt hatte, wie sie das Netz aus Pfaden nutzen konnte, das in ihrem Unbewussten ruhte.
»Wirst du zurechtkommen, bis ich da bin?«, fragte sie, als er in den Speisesaal ging.
»Ja. Ich habe alles im Kopf.« Strell drehte sich um und schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Ich werde meinen Text schon nicht vergessen.«
Sie erwiderte sein Lächeln, doch es verflog rasch. Sie hatte Strell gründlichst vorbereitet und ihm immer wieder erzählt, wie ihre Quelle und die Pfade aussahen, damit er Bailics Fragen richtig beantworten konnte, doch sie machte sich stets Sorgen, wenn sie nicht dort oben bei ihnen war, um ihn auf mögliche Fehler hinzuweisen.
»Ich
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