Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
und der Mantel zogen sie hinab. Nach einem kurzen Kampf erkannte sie, dass ihre einzige Chance darin bestand, die Sachen auszuziehen oder zu warten, bis sie unten ankam, um sich vom Boden abzustoßen. »Nutzlos!« , schrie sie in Gedanken und betete darum, dass ihr Lehrer sie gehört haben möge; doch sie konnte nicht wissen, ob er in der Nähe war. Ihn aus der Entfernung zu erreichen war noch immer unsicher, trotz ihrer gemeinsamen Übungen. Ihre Lunge stach, und sie kämpfte mit den Verschlüssen ihres Mantels. Ihre Füße stießen auf Grund. Erleichterung überkam sie – sie hatte halb damit gerechnet, der Brunnen könnte bodenlos sein –, und sie stieß sich ab, wobei sie schräg auf den Rand zuhielt.
Sie erreichte die Oberfläche und schnappte keuchend nach Luft, vermengt mit Wasser. Sie hustete erstickt und spürte, wie das Wasser beinahe wieder über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie tastete nach dem Rand. Eine starke Hand ergriff die ihre. Eine weitere packte fest ihren Arm, und sie wurde hochgezogen. Hustend und prustend hing sie über dem Rand der Zisterne. Alissa rang nach Luft und versuchte, das Wasser aus ihren Augen zu blinzeln. Die Hand auf ihrer Schulter hatte alle fünf Finger. Das war nicht Strell!
Immer noch nach Luft japsend, wich sie zurück.
»Ich bin es, Alissa«, sagte eine volltönende, klare Stimme, und sie ließ sich erleichtert auf die Mauer sinken.
»Lodesh?«, keuchte sie. »Was tut Ihr denn hier unten?«
»Auf Euch achtgeben«, erwiderte er in einem eigenartig weichen Tonfall.
Sie richtete sich auf und ließ die Füße auf den Boden gleiten, wo sich sogleich eine Pfütze bildete. Ihre Erleichterung schlug in Verlegenheit um. »Ich brauche niemanden, der auf mich achtgibt«, sagte sie, kaum dass sie halbwegs Luft bekam.
Lodesh trat einen Schritt zurück. Er ließ den Blick über sie gleiten, während sie sich an den Rand des Brunnens lehnte. »Doch, meine Teuerste. Sonst wärt Ihr jetzt nicht klatschnass.«
Einen Moment lang brachte sie kein Wort heraus. Stirnrunzelnd entzog sie ihm ihre Hand. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass er sie gehalten hatte. Ihr Herz raste, doch ob das an Lodesh lag oder an ihrem verzweifelten Kampf, nicht zu ertrinken, konnte sie nicht beurteilen. Sie zog ihren Mantel und den Rock von der niedrigen Mauer und richtete sich auf, wobei sie unter dem Gewicht ihrer vollgesogenen Kleidung leicht schwankte.
Lodesh hob die Fackel vom Boden auf. Alissa hatte daraufgetropft, und sie war erloschen. »Ich glaube nicht, dass ich das hier zum Brennen bringen kann«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir zum Westtor gehen und uns überlegen, was wir jetzt tun können? In der Sonne ist es wärmer.«
Alissa blickte abschätzig an sich hinab. »Ja. Ich bin ziemlich nass, nicht wahr? Aber ich denke, ich sollte lieber schnell nach oben gehen und hoffen, dass Bailic und Strell mich nicht so erwischen.«
»Das könnt Ihr nicht, Alissa. Das Gitter wird Euch nicht wieder hinauslassen.«
Überraschung durchfuhr sie. »Strell ist durch das westliche Gitter hinausgekommen«, sagte sie. »Bevor Talo-Toecan es aus der Verankerung gerissen hat, ist Strell hindurchgeklettert und hat den Riegel zerstört. Das hat er mir selbst erzählt.«
»Tja, nun, er ist ja auch ein Gemeiner.«
Ihre Augen wurden schmal. Stadtvogt hin oder her, er sollte nicht beleidigend werden. »Strell ist der letzte Abkömmling einer berühmten Kunsthandwerker-Familie. Er trägt einen verbrieften Namen«, sagte sie. »Er ist – kein – Gemeiner! «
»Doch, das ist er, meine Teuerste«, entgegnete Lodesh in einem Tonfall, als bereite es ihm Freude. »Der Begriff war nicht verächtlich gemeint, sondern eine sachliche Zuordnung. Die Banne auf dem Gitter reagieren auf die Komplexität der Pfade einer Person.«
Seine ruhig gesprochenen Worte bildeten einen scharfen Kontrast zu ihren, und sie schlug beschämt die Augen nieder. Sie hatte kein Recht, Lodesh anzuschreien. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich sollte endlich lernen, meine Retter nicht immer als Erstes anzuschreien.«
Lächelnd trat Lodesh einen Schritt näher. »Gehen wir in die Sonne. Dann werdet Ihr schneller wieder trocken.«
Alissa rührte sich nicht, denn nun regte sich Sorge in ihr. »Könnt Ihr die Banne nicht lösen?«
Er schüttelte mit betrübtem Blick den Kopf. »Nur Talo-Toecan könnte das. Ich bin sicher, er ist ganz in der Nähe und wird Euch befreien. Wenn nicht, könnten wir vielleicht auch hinausklettern.«
Alissa spürte, wie
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