Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
ihn drängen, ihr zu folgen. Er war nicht ganz sicher, ob er glauben konnte, dass der Vogel das tatsächlich tat, doch Lodesh folgte ihm. Mit zunehmender Anspannung beobachtete er, wie der Vogel widerstrebend zu dem Kabuff unter der Treppe flatterte und mit dem Schnabel an dem kaum sichtbaren Spalt herumhackte.
»Nein«, flüsterte er und spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ohne zu zögern, riss er die Tür auf und fand ein leeres Bündel, dessen Inhalt in mehreren Haufen darum herum verteilt lag. Lodesh sandte seine Gedanken hinab in den Zwinger und stellte bestürzt fest, dass sie sich bereits hinter dem gesicherten Gitter befand. »Ach, Alissa«, hauchte er, und sein Blick huschte zu dem Loch im Boden. »Deine Neugier wird uns noch allen den Tod bringen.«
»Alissa?«, erklang Strells gedämpfter Ruf aus der Schülerküche.
Lodesh sog scharf den Atem ein. Er trat in das Kabuff, schloss die Tür hinter sich und war in der Dunkelheit verborgen. Noch brauchte er den Pfeifer nicht unbedingt einzuweihen. Er zwang seine gehetzten Gedanken, sich zu beruhigen und dann einen weichen Lichtschimmer zu erschaffen, den er mit einer Hand umfing, um ihn mitzunehmen. Die Stufen waren rutschig, und während er nervös hinab in die feuchte Tiefe spähte, fragte er sich, was er dort unten vorfinden würde. Man hatte ihm von diesem Gang erzählt, als er zum Stadtvogt geworden war, doch er war niemals in den Zwinger eingeladen worden, der erfüllt war von Traditionen und feierlichen Zeremonien.
Mit grimmig verzerrtem Gesicht begann er den Abstieg. Die Treppe war eng, feucht und sehr unangenehm. Seine Einbildung ließ mit jedem Schritt die Wände noch dichter zusammenrücken und die Decke tiefer herabsinken, doch er ging weiter und richtete seine Gedanken ganz auf Alissa statt auf seinen Anflug von Klaustrophobie. Bald drang das Geräusch von tropfendem Wasser an sein Ohr. Immer noch unsicher, wie er mit dieser Lage umgehen sollte, schob er sich um die letzte Biegung und spähte in den kleinen Vorraum, von dem man ihm erzählt hatte.
Tiefste Schwärze sog den schwächlichen Schimmer seiner Lichtkugel auf. Er lauschte, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Alissa irgendwo singen hörte. Er achtete sorgsam darauf, die mächtigen Gitterstäbe nicht zu berühren, während er zwischen ihnen hindurchschlüpfte. Da er ein Bewahrer war, würde das Gitter ihn auch wieder hinauslassen, Alissa jedoch nicht. Das brauchte sie allerdings noch nicht zu erfahren.
Es lag nicht an Talo-Toecans Meinung, dass er sich von Alissa fernhielt – Lodesh würde tun, was ihm beliebte, wenn es um Alissa ging. Doch in letzter Zeit hatte er sie um seines eigenen Seelenfriedens willen gemieden. Dort in den Stallungen hatte er beinahe das Gefühl gehabt, sie erinnere sich, als sie von seinen Euthymien und dem Mondlicht gesprochen hatte. Ihre Worte hatten ihn tiefer getroffen als die winterliche Kälte. Damit hatte er nicht gerechnet, als er sie hinab in die Stallungen gelockt hatte. Wie ein Narr hatte er gehofft, dass ihre beiläufige Freundlichkeit in echtes Wiedererkennen umschlagen würde, wenn sie sich nur eine Weile mit ihm unterhielt. Doch ihre sanften Worte und unschuldigen Berührungen hatten ihn zur Verzweiflung getrieben. Sie war sie, aber auch wieder nicht.
Lodesh schob sein eigenes kleines Bündel ein wenig höher und schritt auf den Lichtfleck des Westtores zu. Ihr Eicheln zu hinterlassen, damit sie sie später fand, war feige, und er tat das nur, um nicht den Verstand zu verlieren. Doch nun hatte sie es geschafft, sich hinter einem mit Bannen belegten Gitter selbst einzusperren. Er musste sich vergewissern, dass ihr nichts fehlte, und wenn er ihre Gespräche auf alltägliche Themen beschränkte, konnte er sich vielleicht vormachen, dass sie ihn kannte.
Frohe Erwartung beschleunigte seine Schritte, während er dem Klang ihrer Stimme zum anderen Ende des weitläufigen Verlieses folgte. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht, als er ihr Lied erkannte. Er wollte sie überraschen, fiel in ihren Gesang ein und ließ seine Stimme zwischen den dicken Pfeilern hallen wie eine vergessene Erinnerung.
– 21 –
S trell?«, fragte Alissa erstaunt und fuhr zum Osttor herum. Ihr Fuß rutschte auf der abgelegten Fackel aus. Sie strauchelte und kippte mit einem kleinen Aufschrei ins Wasser. Kurz bevor sie aufschlug, hörte sie ein »Alissa!«. Dann nur noch das Rauschen von Luftbläschen, als sie unterging. Ihr Rock
Weitere Kostenlose Bücher