Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
hatte man die Pferde nicht mehr gesehen.
Er ging westwärts durch seine leere Stadt und ignorierte die schwarzen Fenster und die leeren Auslagen der Läden. Doch er konnte nicht verhindern, dass die Namen und Gesichter, die einst zu diesen Häusern gehört hatten, aus seiner Erinnerung emporstiegen. Er hätte den Bau der Mauer sofort abbrechen müssen, als die Pferde davongezogen waren, dachte er niedergeschlagen. Doch er war jung und unerfahren gewesen und hatte sich allzu sehr auf den geflüsterten Rat verängstigter Männer und Frauen verlassen. Lodesh wünschte, er hätte damals so klar vorausschauen können wie heute, als er durch das zerbrochene Westtor trat und dann durch die stillen Wälder lief, bis der Turm sich vor ihm erhob, als sei er durch Zauberei aus dem wirbelnden Schnee erschienen.
Die kleinen Abdrücke von Alissas Stiefeln zierten die Treppenstufen, und er lächelte, wobei sich seine halb erfrorenen Wangen seltsam steif anfühlten. Anscheinend war er heute nicht der Einzige, der den Schnee zu seinem Vorteil nutzte. Eine rasche mentale Durchsuchung der großen Halle, der Küche und des Bewahrer-Speisesaals sagte ihm, dass das Erdgeschoss menschenleer war. Befriedigt klopfte er sich den Schnee von den Stiefeln und trat ein.
Die Stille, die die Feste gepackt hielt, war vollkommen. Ein scharfer, metallischer Geruch hing beinahe greifbar in der Luft, und er fragte sich, was Bailic wohl gerade trieb. Plötzlich rauschten Flügel in der Luft. Alissas Vogel landete auf seinem Handgelenk; er war von einer der Galerien über der großen Halle herabgeflogen. »Psst«, beruhigte Lodesh das aufgeregte Tier und hoffte, es werde ihm mit seinen Krallen nicht den Mantel ruinieren. Es überraschte ihn nicht, es hier zu sehen. Der Vogel hatte eine beinahe unheimliche Begabung dafür, ihn aufzuspüren, und diente Lodesh als stummer Zeuge, während er sich hastig vergewisserte, ob es Alissa gut ging.
Mit dem kleinen Vogel auf dem Unterarm folgte Lodesh dem Gestank brennenden Metalls bis in die Küche. Er zog die Augenbrauen hoch, als er die kupferne Teekanne erblickte, rußgeschwärzt und qualmend, weil alles Wasser über den heißen Flammen verdampft war. Er warf Kralle hinauf ins Gebälk und zog die Kanne vom Feuer. Alissa würde furchtbar wütend sein. Die Kanne bestand aus so viel gutem Kupfer, dass man zwanzig Eheringe daraus hätte schmieden können, und sie behandelte sie stets mit großer Sorgfalt. Lodesh musste lächeln, weil er sie bei einem Fehler ertappt hatte, und ließ die Eichel in die Kanne fallen. Es würde ihr peinlich sein, zu wissen, dass er gesehen hatte, wie furchtbar sie ihre Kanne versengt hatte, und er liebte es, sie zum Erröten zu bringen, auch wenn er nicht hier sein würde, um es zu sehen.
Nachdem er sein Versprechen eingehalten hatte, sandte er seine Gedanken in die Feste aus, um sie zu suchen. Ihr Gemach war leer, und er lenkte seine Gedanken zum Kurzwaren-Lager. Alissa liebte den Duft von Leder und war ständig auf der Suche nach hübschen Kleinigkeiten für ihre neuen Kleider oder ihr Schlafgemach. Aber dort war sie auch nicht. Lodesh wurde kalt, und er sandte seine Gedanken empor zu Talo-Toecans ehemaligen Gemächern. Seufzend vor Erleichterung stellte er fest, dass sich dort nur Bailic aufhielt.
Besorgt kehrte Lodesh in die große Halle zurück und suchte nun die gesamte Feste systematisch ab. Er begann in den obersten Turmzimmern und arbeitete sich abwärts durch alle Räume und Flure bis hinab in die Keller. Er fand den Pfeifer in der Schülerküche an seiner Töpferscheibe, doch keine Spur von Alissa. Sie war nicht in der Feste.
Kralle war ihm aus der Küche gefolgt, und er streichelte den Vögel auf seinem Arm, während er an Alissas Fußabdrücke dachte – sie hatten in die große Halle hineingeführt, nicht nach draußen. Dennoch sandte er seine Gedanken hinaus in den Garten und über die umliegenden Ländereien. Vielleicht hatte sie beschlossen, einen Spaziergang im Schnee zu machen, so unwahrscheinlich das auch war – Alissas Abneigung gegen Kälte war so stark, wie er sie selten bei jemandem erlebt hatte. Doch auch der Garten und die verwilderten Felder und Weiden waren leer. Sie war nirgendwo. Einfach nirgendwo.
Lodeshs Besorgnis wuchs, als ihm die vergessene Teekanne wieder einfiel. »Wo ist sie?«, flüsterte er, und Kralle schwang sich in die Luft, um am Fuß der Treppe auf dem Boden zu landen. Sie hüpfte hinter der Treppe herum und zwitscherte, als wollte sie
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