Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
sie bleich wurde. »Er wird furchtbar zornig auf mich sein.«
»Vermutlich. Aber bevor wir irgendetwas unternehmen, müsst Ihr zuerst trocken werden.«
Er nahm ihren tropfenden Arm, legte ihn vorsichtig auf seinen und führte sie zu dem Loch in der Felswand, als sei sie eine große Dame, kein halb ertrunkenes Häuflein Elend. »Ja, ich danke Euch«, murmelte sie. Wie betäubt ließ sie sich von ihm durch die Höhle führen, denn sie konnte nur daran denken, was Nutzlos zu alledem sagen würde. Ihr Mantel war eine tropfnasse, schleimige Masse aus Wolle und Leder, die schwer auf ihr lastete, und sobald sie ein sonniges Fleckchen erreichten, zog sie ihn aus. Er würde trocknen, aber dabei bestimmt so steif werden, dass er hinterher nicht mehr zu gebrauchen war. Sie wusste es einfach.
Vor der Öffnung, die in den weiten Himmel hinausging, war es wärmer, als man meinen würde, denn der Wind wurde an der Höhle vorbeigeleitet, statt hineinzupfeifen. Sie ließ sich auf dem von der Sonne gewärmten Steinboden nieder, und plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Lodesh? Ihr seid mir hier herunter gefolgt, obwohl Ihr wusstet, dass auch Ihr hinter dem Gitter gefangen sein würdet?«
Er holte Luft, als wollte er sprechen. Langsam stieß er sie wieder aus. »Ja. So war das.«
»Danke«, sagte sie schüchtern, löste ihr Haarband und versuchte, ihr nasses Haar auszuschütteln.
Er ließ sich neben ihr in der Sonne nieder. »Es tut mir leid, dass ich Euch erschreckt habe – Ihr seid meinetwegen in den Brunnen gefallen.«
»Das war nicht Eure Schuld«, sagte sie und schnitt eine Grimasse, als sie reichlich Wasser aus ihrem Ärmel wrang.
Er lächelte sie an, nahm das kleine Bündel von seinem Rücken und zog seinen Mantel aus. Dann beugte er sich vor und legte ihn ihr galant über die Schultern. Der Mantel roch nach Euthymienholz, und sie atmete tief ein. »Hättet Ihr vielleicht Lust, mir beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten?«, fragte er leichthin.
Damit wollte er sie offenkundig von ihren Sorgen ablenken, doch Alissa blickte neugierig auf. »Ihr habt etwas zu essen dabei?«
Mit offensichtlicher Freude öffnete Lodesh sein Bündel und breitete ein Taschentuch auf dem Boden zwischen ihnen aus.
Dann holte er ein großes Stück Käse, ein fettig aussehendes Würstchen und einen großen, etwas angeschlagenen Haferkeks heraus, der bereits zu zerkrümeln begann. Er reichte Alissa den Käse und eine Hälfte von dem Keks.
Alissa stürzte sich zuerst auf den Käse, rümpfte jedoch die Nase, als sie den leichten Geruch nach Würstchen daran wahrnahm. Da sie im Vorgebirge aufgewachsen war, hatte sie noch nie Fleisch gegessen. Die Bauern im Hochland hielten Schafe, Schweine und Ziegen, aber nur, um sie an die Tiefländer zu verkaufen. Dass diese das Fleisch aßen, bewies, wie knapp die Nahrungsmittel dort sein mussten. Alissa hatte noch nie etwas gegessen, das Füße besaß, und sie würde jetzt nicht damit anfangen. Da ihr von dem anhaftenden Geruch ein bisschen übel wurde, legte sie den Käse beiseite und griff nach dem Keks. Lodesh sah ihren Abscheu und kicherte. »Ich entschuldige mich nicht für meine Essgewohnheiten«, sagte er und verspeiste den scheußlichen kleinen Übeltäter mit offenkundigem Genuss.
Alissa bemühte sich, ihn zu ignorieren, und besah sich stattdessen die Aussicht. Sie bildete sich beinahe ein, am fernen Horizont Wasser glitzern zu sehen. »Wart Ihr jemals dort?«, fragte sie sehnsüchtig und las mit der Fingerkuppe einen Krümel von ihrem nassen Knie auf.
»Verzeihung?«, fragte Lodesh verwundert.
Alissa blinzelte und wandte sich ihm zu. Strell hätte am Tonfall ihrer Stimme und ihrer Blickrichtung erkannt, was sie meinte. »Am Meer«, erklärte sie. »Wart Ihr jemals dort?«
»Äh, ja. Ein- oder zweimal.«
»Wie ist es?« Sie richtete den Blick wieder auf den fernen Horizont und wartete.
Er zuckte mit den Schultern. »Menschen werden dort geboren, sie leben, sie arbeiten, sie lachen und weinen. Und wenn sie sterben, werden sie von jenen betrauert, die sie zurücklassen. Es ist nicht viel anders dort als anderswo.«
»Oh.« Das war nicht das, was sie hören wollte, und da Alissa nicht recht wusste, was sie davon halten sollte, griff sie nach dem Stück Käse und biss hinein. »Ein Jammer, dass Ihr Eure Becher nicht mitsamt dem Tee herbeizaubern könnt«, sagte sie halb im Scherz.
Lodesh wischte sich unauffällig die fettigen Finger an dem Taschentuch zwischen ihnen ab. »Nun, nicht einmal der
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