Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
atmen, damit man ihm seine Gier nicht ansah. Es fiel ihm schwer, auch nur diese geringe Menge durch seine Finger gleiten zu lassen, ohne sie für sich selbst zu beanspruchen und seine Kraft damit zu mehren. »Nicht genug, um allzu viel damit anzufangen«, fuhr Bailic fort. »Mehr konnte ich nicht finden. Außerdem«, fügte er spöttisch hinzu und drehte sich wieder um, »werde ich dir nichts geben, was dir mehr Kraft verleihen würde. Diese Menge reicht zu Übungszwecken aus. Wenn ein Meister dich unterweisen würde, bekämst du überhaupt nichts davon, bis deine Ausbildung fast abgeschlossen wäre, also darfst du dich glücklich schätzen. Diese Quelle gehört dir, bis ich sie dir wieder wegnehme.« Bailic lächelte in froher Erwartung. »Und ich werde sie dir wieder wegnehmen.«
Der Mann musterte das Kästchen mit neugierigem Argwohn. »Was soll ich damit tun?«, fragte er.
»Nimm das Kästchen auf«, wies Bailic ihn an und schüttelte gleich darauf den Kopf, denn der Pfeifer hielt es so vorsichtig in der Hand, als wäre es ein Grashüpfer, der ihn beißen könnte. »Jetzt lass deine Aufmerksamkeit schweifen – schließ die Augen, wenn dir das dabei hilft. Du solltest die Quelle nun vor deinem inneren Auge sehen können, neben deinen Pfaden. Versuche, nur aus den Augenwinkeln danach zu schauen, als läge sie um eine Ecke verborgen. Sie sieht aus wie –«
»Eine Kugel aus Nichts, umgeben von einem Netz schimmernder Bänder?«, unterbrach ihn der Mann in erstauntem Tonfall. »Da sollen mich doch die Wölfe holen. Sie ist wunderschön …«
»Du hast sie bereits gefunden?«, rief Bailic schockiert aus.
Der Pfeifer fuhr zusammen, als hätte er sich erschreckt. »Sie ist weg«, sagte er und sah Bailic bestürzt an.
Bailic rückte seine Meisterweste zurecht, um seine Überraschung zu überspielen. Vielleicht besaß der Pfeifer doch ein Quäntchen Talent. Er selbst hatte beim ersten Mal Stunden gebraucht, um seine Quelle zu finden. »Sie ist noch da«, sagte er.
»Jedenfalls so lange, wie du dich in der Nähe dieses Kästchens aufhältst. Such sie noch einmal.«
Strell richtete sich auf und umklammerte das Kästchen so fest, dass seine Fingerknöchel sich weiß färbten. Sein Blick wurde leer, seine Gesichtszüge erschlafften. »Ah …«, hauchte er mit entrücktem Blick.
Bailic traute der Sache nicht ganz und trat leise vor. Seine Schärpe glitt flüsternd über den Boden, als er um den Pfeifer herumging und hinter ihm stehen blieb. »Wie sieht sie aus?«, fragte er mit angenehmer Stimme, denn er wollte Strell einlullen, um dessen Kooperation zu erreichen. »Was liegt jenseits des Geflechts aus Bändern, die deine Quelle einfassen?«
»Nichts«, sagte der Mann. »Ich kann nicht an den Bändern vorbeischauen. Mein Blick gleitet irgendwie daran ab. Ich glaube, da ist gar nichts.« Sein Blick wurde klar, und er sah Bailic an. Jede Spur des verdrießlichen Schülers war verschwunden. Die übliche Feindseligkeit Bailic gegenüber hatte er ob des Schocks, eine solche Pracht in seinen eigenen Gedanken zu finden, wohl vorübergehend vergessen. »Aber da ist etwas, nicht wahr? Was ist es?«
Bailic fand es ermutigend, dass sein Schüler anscheinend endlich Fortschritte machte, und seine Frustration verebbte. Er sammelte sich zu einer Erklärung, bemerkte dann, dass er die Fingerspitzen aneinandergelegt hatte wie sein alter Lehrmeister, und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Kraft«, sagte er. »Energie. Deshalb kannst du sie nicht sehen. Niemand weiß, woher die Bänder kommen, die deine Quelle in dieser Kugelform festhalten. Jemand hat mir einmal gesagt, sie würden aus Willen geformt, aus deinem Willen, um deinen Geist durch diese Abtrennung vor der schädlichen Realität der Unendlichkeit zu schützen.«
Aufrichtiges Staunen sprach aus dem Blick des Pfeifers. »Unendlichkeit?«, flüsterte er. »Das wusste ich nicht.«
Bailics Augen wurden schmal. »Selbstverständlich nicht. Such sie noch einmal.«
Der Pfeifer wurde still, seine Augen schlossen sich, und eine eigenartige Reglosigkeit senkte sich über ihn, als er sich vollständig auf seine innere Sicht konzentrierte. Bailic erinnerte sich daran, wie leicht ein neuer Bewahrer sich in seiner eigenen Kraft verlieren konnte, bis er sie für selbstverständlich nahm. Beinahe beneidete er den Pfeifer um dessen Naivität. »Nun sag mir«, sprach er über Strells Schulter, »was du zum Frühstück gegessen hast.«
»Hm-m?« Strell blickte auf, seine
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