Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Konzentration war offensichtlich gebrochen. »Verbranntes Brot.«
»Nein!«, schrie Bailic und unterstrich das Wort mit einem harten Faustschlag auf den Tisch. »Du sollst deine innere Sicht nicht fallen lassen, während du mir antwortest. Wie oft muss ich dir das denn noch erklären?« Bei den Wölfen, dachte er. Dabei hatte es gerade so ausgesehen, als beginne der Pfeifer zu begreifen. »Noch einmal«, sagte er.
Ein albernes, geistesabwesendes Lächeln breitete sich über das Gesicht seines Schülers.
»Ja, sie ist sehr hübsch, gewiss, gewiss«, sagte Bailic ätzend. »Und nun sag mir, ohne sie aus den Augen zu verlieren, was das Mädchen heute trägt.«
Das Grinsen erlosch, und der Mann sah ihm in die Augen. »Warum wollt Ihr das wissen?«
Bailic stieß zischend den Atem aus. »Du hast sie schon wieder verloren, nicht wahr?«
»Nur, weil Ihr mir ständig Fragen stellt!«
Bailic beugte sich dicht zu ihm hinab und flüsterte übertrieben langsam: »Das ist ja gerade der Zweck der Übung!«
Strells Augen wurden schmal.
»Noch einmal«, sagte Bailic. »Finde deine Quelle, und wenn du sie wieder verlierst, werde ich dafür sorgen, dass du jedes Mal, wenn du dich hinsetzt, das Gefühl hast, heiße Kohlen glühten unter deinen Fußsohlen.«
Der Blick des Mannes huschte von Bailic zu der verschneiten Landschaft drei Stockwerke unter ihnen. »Und das soll ich vermeiden, ja?«
Bailic atmete tief durch, um sich zu beruhigen, zwang seine Finger stillzuhalten, und ermahnte sich, dass er versprochen hatte, den Pfeifer nicht zu töten, obwohl die Vorstellung immer verlockender wurde. Doch wenn er den Pfeifer tötete, blieb ihm keine Chance mehr, das Buch zu öffnen. »Finde sie«, sagte er knapp, wandte sich dem Fenster zu und ging davor auf und ab, um durch die Bewegung die verstreuten Überreste seiner Geduld zu sammeln. Einen Moment lang hatte so etwas wie Respekt geherrscht.
Er lauschte, während der Pfeifer drei langsame Atemzüge tat, wie er es ihn gelehrt hatte. Als Bailic der Meinung war, es sei genug Zeit vergangen, blieb er neben dem Pfeifer stehen und kniff angestrengt die Augen zusammen, um den dümmlichen, halb entrückten Blick zu sehen, den Bewahrer stets zeigten, während sie lernten, ihre Aufmerksamkeit zwischen der Wirklichkeit und ihren Gedanken aufzuteilen. »Was gibt es zum Abendessen?«, fragte Bailic. »Das Mädchen muss etwas Besonderes planen, wenn sie dich nur mit geröstetem Brot zu mir schickt.« Bailic stupste die harte Brotscheibe mit dem Zeigefinger vom Teller und auf das Tablett, um den Pfeifer damit abzulenken. Er war einigermaßen zufrieden, als er feststellte, dass der Mann diesmal seine Konzentration halten konnte.
»Kandierte Äpfel«, sagte sein Schüler abwesend und ziemlich undeutlich.
»Wie war das?«, fragte Bailic laut und unangenehm dicht am Ohr des Pfeifers, um ihn in seiner Konzentration zu stören. »Du klingst wie ein Bettler ohne Zähne.«
»Kandierte Äpfel«, wiederholte der Mann, diesmal deutlicher.
Bailic wich zurück, überzeugt davon, dass der Pfeifer nun ein gewisses Maß an Kontrolle erlangt hatte. »Kandierte Äpfel«, sagte er nachdenklich. »Ihre Mutter muss eine reinblütige Tiefländerin gewesen sein, wenn sie dieses Gericht kannte. Auspeitschen sollte man die Frau dafür, dass sie es ihrem Halbblut von einer Tochter beigebracht hat. Trotzdem – ich habe seit Jahren keinen kandierten Apfel mehr gegessen.«
»Dann hättet Ihr vielleicht nicht jeden in dieser Feste ermorden sollen«, sagte der Pfeifer.
Bailic stockte vor Empörung der Atem. Zorn erfasste ihn, spannte seine Muskeln an und gab ihm den Gedanken ein, den Pfeifer mit einem bösartigen Bann zum Schweigen zu bringen. Doch der Anblick seines Schülers mit gerecktem Kinn und offen trotziger Miene ließ Bailics ersten Anfall von Zorn in Arglist umschlagen.
Ein gemächliches, überhebliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht und vertiefte sich befriedigend, als der Pfeifer mit sichtlicher Überraschung auf die ausbleibende Vergeltung reagierte. Bailic hatte eine gesamte Festung voll Bewahrer natürlich nicht allein mit magischen Mitteln ermordet. Es gab andere Möglichkeiten, einen wohlhabenden Tiefländer, der allzu sehr von sich überzeugt war, zur Besinnung zu bringen, und Bailic meinte, genau die richtige zu kennen.
Dass die junge Frau eine skandalöse Mischung aus Tiefland und Hochland war, konnte niemand übersehen, doch anscheinend hatte der Pfeifer seinen hohen Stand vergessen
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