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Alissa 2 - Die geheime Wahrheit

Alissa 2 - Die geheime Wahrheit

Titel: Alissa 2 - Die geheime Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Cook
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des Pfeifers. Bailic erinnerte sich daran, dass dieses Stück so unbequem war, wie es aussah. Dennoch schlief der abscheuliche Kerl ständig darauf ein.
    Bailic saß kerzengerade auf der Kante der langen Bank und wartete kochend auf den Sonnenaufgang. Ein kurzer weißer Faden hing an seinem Ärmel, und er zupfte ihn ab und ließ ihn durch die Finger gleiten, um die Qualität abzuschätzen. Erstklassig selbstverständlich. Etwas anderes hätte das Mädchen in den Lagerräumen auch gar nicht finden können.
    Seine üble Laune besserte sich ein wenig, als er den Faden fallen ließ. Die Überreste ihrer Näharbeit fanden schon seit Wochen ihren Weg an seinen Ärmelsaum oder die unteren Enden seiner Schärpe. Es war nicht richtig, dass eine Gemeine die Unterweisung eines Bewahrers mit anhörte, doch der Anblick ihres geneigten Kopfes und der flinken Nadel war eine bittersüße Erinnerung an Bailics Schwestern, eine zufriedene Schar geschickter, geschwätziger Näherinnen. Er ignorierte Alissa, denn als er ein einziges Mal eine Bemerkung zu ihrer Arbeit gemacht hatte, war sie am darauffolgenden Morgen nicht erschienen. Und der Anblick ihrer stillen, versunkenen Häuslichkeit war ein Schmerz, der seine Entschlusskraft jedes Mal aufs Neue stärkte.
    Ihre stumme Gegenwart in der Ecke war zu einem unerwarteten Denkmal all dessen geworden, was er zurückgelassen hatte, und erinnerte ihn an alles, dem er entkommen war, an alles, zu dem er nie würde zurückkehren können. Er war ein Tiefländer, doch seine blasse Haut und das helle Haar hatten dazu geführt, dass er verstoßen wurde, noch ehe er zwölf Sommer alt gewesen war; er sah allzu sehr wie ein Hochland-Bauer aus, um unter seinesgleichen akzeptiert zu werden. Von den eigenen Eltern verschmäht und gemieden, floh er schließlich, um ihnen die exorbitante Bestechung zu ersparen, die es gekostet hätte, ihn unauffällig aus dem Tiefland »geleiten« zu lassen. Er bereute nur, dass er stets versucht hatte, ihre Liebe zu gewinnen, sogar, indem er fortlief.
    Da er nicht unter den Barbaren im Hügelland leben wollte – selbst wenn sie es ihm erlaubt hätten –, war er in die Berge gewandert. Er hatte edel und mutig in den Tod gehen wollen. Stattdessen hatte er die Feste gefunden, die ihn mit seinen reifenden Fähigkeiten zu sich hinzog, als der schwere Himmel gerade seine Schleusen öffnete. Hier war er Meson begegnet, und nach einer gebrochenen Nase und einer angeknacksten Rippe hatte er eine Art widerstrebenden Respekt vor dem kleineren, aber zähen Menschenschlag entwickelt, den das Hügelland hervorbrachte. Sein Groll war jedoch geblieben, sogar vor ihm selbst verborgen, bis Meson seine wahre, verräterische Natur offenbarte, indem er der einzigen Frau, die Bailic lieben konnte, den Kopf verdrehte: einer dunklen, wunderschönen Tiefländerin, der es ganz gleich war, dass Bailics Haut blasser war als der Mond und sein Haar so hell wie Stroh.
    Meson, der Feigling, hatte sich um seine Verantwortung als Bewahrer gedrückt und die Feste verlassen, während Bailic geblieben und unter der Anleitung der Meister immer mächtiger geworden war. Das war der Zeitpunkt, da Bailic begann, bloße Gedanken und Fantasien in die Wirklichkeit umzusetzen. Er würde das nehmen, was die Meister ihn lehrten, und es so zurechtbiegen, dass er Tiefland und Hochland beherrschen und sich selbst einen Platz schaffen konnte. Doch erst würde er beide Völker erfahren lassen, was Schmerz bedeutete, und ihnen den Kummer, den sie ihm zugefügt hatten, zehnfach vergelten. Sie hatten es verdient.
    Die beiden Gruppen waren für einen Konflikt ideal aufgestellt; sie hassten einander jetzt schon beinahe so sehr, wie er sie verabscheute. Doch es kam nie zum Krieg. Sie waren gerade klug genug, um zu wissen, wo sie einhalten mussten. Bailic brauchte etwas, das dieses Gleichgewicht kippen konnte. Die verlassene Stadt Ese’ Nawoer käme ihm da sehr gelegen. Er war sicher, dass das Buch der Ersten Wahrheit machtvoll genug war, die verfluchten Seelen der Stadt zu erwecken. Dann würde er ihre Treue einfordern, die ihm nach allem, was die Geschichte zu berichten wusste, rechtmäßig zustand.
    Er würde sie in die Hügel und in die Tiefebene schicken, damit sie die Saat des Wahnsinns ausbrachten. Die Seelen von Ese’ Nawoer würden den Ahnungslosen ihre Angst und Schuld einflüstern und einen Krieg anzetteln. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen Hochland und Tiefland würde bröckeln, und bis zum Ende des Sommers

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