Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
und eine gewisse Zuneigung zu ihr entwickelt. Bailic konnte diese zweifelhafte Vorliebe benutzen. Er würde es nicht riskieren, seinem Schüler einen machtvollen Bann beizubringen, nur weil dieser es an Respekt fehlen ließ. Er wollte den Respekt des Pfeifers ja gar nicht. Er wollte nur, dass der Mann seine Zunge im Zaum hielt.
Bailic trat näher. »Ich könnte dich auf der Stelle zu Asche verbrennen«, sagte er leichthin.
»Warum tut Ihr es dann nicht?«, erwiderte der Pfeifer, der sich offenbar sehr sicher war, dass Bailic es nicht tun würde.
Bailic nickte langsam, als gestehe er ein, dass der Pfeifer recht hatte. Eigentlich brauchte Bailic gar nichts dazu zu sagen. Die Antwort lag oben in seinen Gemächern, verborgen unter Stapeln anderer Bücher, die er im Lauf der Jahre angesammelt hatte. »Du hast recht, das werde ich nicht tun«, sagte er. »Du besitzt immerhin einen gewissen Wert für mich. Doch es gibt Dinge, die du vielleicht vermissen würdest.«
Der Tiefländer blickte unter gerunzelten Brauen hervor zu ihm auf. »Mir ist nicht mehr viel geblieben, Bailic«, sagte er, und Hass glomm in seinen Augen. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Mein Name ist wertlos. Alles, was dazugehörte, ist nicht mehr.«
»Oh. Ich verstehe. Ja.« Bailic raffte seine robenartige Weste, um sich halb auf die Tischkante zu setzen. Betont wandte er den Blick ab und neigte langsam den Kopf in einer selbstsicheren Geste, um zu dem Sessel des Mädchens hinüberzustarren.
Der Pfeifer wurde blass. »Wenn Ihr sie anrührt, werde ich –«
»Wirst du was?«, höhnte Bailic und beugte sich zu ihm vor. »Sie ist ein Halbblut, in Schande gezeugt. Dein eigener Vater würde dich auf die Straße werfen; deine Sippe würde dich steinigen. Sag mir, dass du deine hohen Tiefland-Werte nicht verrätst, sondern das Mädchen nur benutzt.«
Der Pfeifer biss die Zähne zusammen, und Zornesröte kroch seinen Hals hinauf. Bailic beugte sich noch dichter vor, eine Herausforderung, ihm zu widersprechen. Er hielt dem Blick des Mannes sechs Herzschläge lang stand und bewies damit seine Überlegenheit. »Geh schon«, sagte er, richtete sich auf und wies zur Tür. »Ich bin für heute fertig mit dir. Geh und such nach deiner Schlampe. Bis morgen übst du, eine Unterhaltung zu führen und gleichzeitig deine innere Sicht beizubehalten. Sollten sich morgen keine Fortschritte zeigen, werde ich die Übung selbst mit dir wiederholen.«
Strells Stuhl scharrte laut über den Boden, als er aufstand.
Er strahlte mühsam beherrschten Hass aus, und Bailic lächelte befriedigt. Wenn er schon keinen Respekt bekam, dann würde er sich mit Hass zufriedengeben. Denn nach dem Hass kam die Angst.
»Nimm das Tablett mit«, verlangte Bailic und stieß es an. »Ich bin kein Huhn. Ich esse keine Brotkrumen. Sag ihr, ich komme gleich herunter, um ihre Arbeit zu überwachen, bis sie mein Frühstück richtig zustande bekommt.«
Der Pfeifer sagte nichts, doch seine steife Haltung wies deutlich daraufhin, dass er die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die Bailic auf das Mädchen richtete, als Strafe für sein eigenes Verhalten empfand. Bailic beobachtete, wie der Tiefländer das Tablett ergriff und ging. Er freute sich, das Kästchen mit dem Quellenstaub fest umklammert in dessen Hand zu sehen. Auch diesen konnte er dazu benutzen, den Mann zu manipulieren, denn ein Bewahrer würde eher sterben, als eine Quelle aufzugeben, wenn er sie erst einmal in seinen Gedanken hatte schimmern sehen.
Es würde also doch noch ein guter Vormittag werden.
– 3 –
E in weich beschuhter Fuß stupste ihren Knöchel an. Erschrocken fuhr sie aus dem Schlaf und unterdrückte ein Grunzen.
»Du schläfst doch nicht etwa, Alissa?«, fragte Strell.
Sie richtete sich in ihrem Sessel am Kamin auf und warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Natürlich nicht. Er könnte jeden Augenblick kommen.«
»Ich wette, du wirst ihn verpassen, weil du einschläfst.«
»Strell, ich werde auf gar keinen Fall einschlafen.« Sie zeigte auf die halb geleerte Teekanne auf dem Kaminsims. »Wenn du zu Bett gehen möchtest, bitte, nur zu. Ich komme allein zurecht.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Klaps auf den Fuß, als er sie erneut anzustupsen drohte.
»Nein. Ich habe versprochen, dich wach zu halten, und das werde ich tun.«
Alissa lächelte ihm zu und zog sich die Decke bis zum Kinn. Das Feuer schuf einen Halbkreis aus Licht, gerade groß genug für ihre beiden Sessel; der Rest ihrer kleinen
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