Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
wurden, und seine Hände, steif an den Seiten gehalten, krampfhaft zuckten. Er starrte zur Decke hoch und spannte sich wie zum Sprung. Sie wich zurück, um so weit von ihm fortzukommen wie möglich, und sei es nur einen Fingerbreit.
»Nein«, stöhnte er und schloss die Augen. »Das kann warten.« Krampfhaft erschauernd wandte er sich ab. Nun schlug seine Haltung ins Gegenteil um, und seine Schultern sanken herab. Langsam drehte er sich auf dem Absatz um. Ein leiser Schreckenslaut entfuhr Alissa, als sie das Lächeln auf seinem Gesicht sah. »Entspann dich, meine Liebe«, sagte er beinahe seufzend und trat an ein Wandbord. »Ich suche dir ein wenig leichte Lektüre heraus. Du kannst doch lesen, nicht wahr?« Er kicherte. »Wenn nicht, nun ja, dann kann der Pfeifer auf ein aufregendes, wenn auch etwas kurzes Leben zurückblicken.«
»Nutzlos« , flüsterte sie, denn sie spürte, wie der Anfang vom unausweichlichen Ende sie erfasste.
»Vielleicht wird dir dies helfen, dich zu entscheiden?«, bemerkte Bailic, brachte ihr Buch zum Tisch und legte es sacht vor sie hin. Alissas Herz schien stehen zu bleiben. Ihr war so schwindlig von dem körperlichen Schock, es so nah bei sich zu haben, dass sie beinahe in Ohnmacht fiel. Ein Gefühl der Spaltung überkam sie, und nun starrte sie das Buch hungrig an, während ihr Atem schnell und flach wurde.
»Du bist mein« , flüsterte das Buch in ihren Gedanken. »Ich bin dein.«
»Nutzlos«, stöhnte sie. Ihre Finger zuckten, streckten sich danach, und sie spürte, wie ihr Wille, ihm zu widerstehen, ihr allmählich entglitt.
Bailic grinste siegessicher. »Ja, es ist nutzlos, ihm zu widerstehen, also wozu die Mühe? Öffne es.«
»Alissa, nein!« , flehte Nutzlos in ihrem Geist, doch sie hörte ihn kaum mehr.
»Wir haben lange genug gewartet« , lockte sie das Buch in ihren Gedanken.
»Du bist mein«, hauchte sie und strich mit dem Zeigefinger über den Verschluss. Mit einem leisen Schnappen klappte die metallene Schließe auf. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihren Fingern aus. Alles verschwamm vor ihren Augen. Ihre Atmung wurde flach.
»Ich bin das, was dich ungebrochen machen wird« , sang das Buch beinahe in ihren Gedanken.
Bailic beugte sich tief hinab. »Öffne es«, flüsterte er drängend, und sie spürte seinen Atem als warmen Hauch an ihrer Wange.
»Alissa!« , rief Nutzlos verzweifelt. »Ich werde dich nicht zurückbringen können!«
»Jetzt« , befahl das Buch.
»Jetzt«, hauchte Bailic, als ihre Finger unter den schweren Ledereinband glitten.
»Jetzt«, stimmte sie zu, und ohne sich um die Folgen zu scheren, schlug sie die Erste Wahrheit auf.
– 28 –
B ailic griff mit einem triumphierenden Aufschrei nach ihrem Buch.
»Nicht«, sagte sie scharf, und er erstarrte mitten in der Bewegung, tief über sie gebeugt. Sie hatte keinen Bann benutzt; seine Überraschung hatte ihn innehalten lassen. Ein silbriger Glanz umgab nun das Buch, und als Alissa mit den Fingern über die feinen Spuren aus Tinte strich, spielte das Licht auf ihren Fingerspitzen wie von den kleinen Wellen auf einem Teich reflektiert. Alissa tauchte die Finger tiefer in dieses seidige Gefühl und identifizierte den Glanz als Gedanken oder Erinnerung, mit Substanz versehen. Die Worte auf dem Blatt dienten nur dazu, die Erinnerung festzuhalten, ganz so, wie ein Feld einem Bann einen Ort zum Wirken gab. Sie lächelte in stiller Befriedigung, als sie erkannte, dass sie das Buch nicht zu lesen brauchte. Sie konnte es erleben.
Bailics frustrierte Gestalt zögerte über ihrer Schulter, als fürchte er sich zu Recht davor, zu berühren, was sie für sich beansprucht hatte. Ihr Buch würde sich nicht dazu herablassen, mit ihm zu sprechen. Er musste sich mit dem geschriebenen Wort begnügen. Außerdem, dachte sie selbstzufrieden, konnte er nicht einmal im Ansatz verstehen, was hier stand.
Und in diesem angenehmen Wissen gab sich Alissa den Erinnerungen des Buches hin und ließ sie nach Belieben in ihre eigene Erinnerung dringen. Eine warme Woge erhob sich, wurde zu ihrer Welt und brachte sanfte Gelassenheit. Das war die erste Lektion, und sie sog sie in sich auf wie dunkler Stein die Sommersonne.
»Nur Unsinn«, hörte sie Bailics fernes Flüstern.
»Nein«, seufzte sie, denn sie konnte sich nicht zurückhalten. »Es ist Hitze.« Und sie sank tiefer in diesen schläfrigen und doch hellwachen Zustand, während der Duft von geborstenem Fels ihre Sinne erfüllte. »Es sind heißer Sand,
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