Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
als wäre sie sicher zu Hause. Und damit wurde ihre Lage ihr unleugbar deutlich.
Sie war zu Hause.
Der kleine Bauernhof ihrer Eltern im Vorgebirge war ihr Geburtsort, und während ihrer ersten Lebensjahre war er ihr Zuhause und ihre Schule gewesen. Nun war die Feste ihr Heim, und sie würde hier sterben, und das recht bald.
»Nutzlos! Bitte!« , schrie sie in stummer Verzweiflung. »Bailic hat sich mit Strell verbunden. Ich kann kein u n durchlässiges Feld benutzen, sonst stirbt Strell mit ihm. Bitte! Wir sind schon fast oben.«
»Ich komme« , drang Nutzlos’ entschlossener Gedanke in ihren Geist. »Du darfst dieses Buch nicht aufschlagen. Du wirst es nicht beherrschen können. Ich werde dich an die Bestie verlieren.«
Sie stolperte und knallte mit dem Schienbein gegen eine Stufe, doch in ihrer Angst nahm sie den Schmerz kaum zur Kenntnis. Sie streckte die Hand aus, um ihren Sturz abzufangen, und Bailic riss sie hoch, ungeduldig ob dieser kleinen Verzögerung. »Das verstehe ich nicht« , sandte sie Nutzlos stumm zu.
»Es tut mir leid« , flüsterte Nutzlos in ihrem Geist. »Ich dachte, w ir hätten mehr Zeit. Ich wollte es dir erkl ä ren … Ich habe versucht, damit zu beginnen …«
Bailic hielt plötzlich inne, nur noch eine Treppe von seinen Gemächern entfernt. Er starrte Alissa mit einer Mischung aus Hass und Gier an und war plötzlich beängstigend still geworden. Alissa stockte der Atem, und sie erstarrte vor Grauen. »Ich möchte wetten«, spekulierte er mit sanfter Stimme, »dass du eine Quelle besitzt. Du musst eine haben.« Er beugte sich vor, sie versuchte zurückzuweichen und stieß gegen die Wand. »Diese Explosion vergangenen Winter kann nur mit ergänzender Energie möglich gewesen sein. Sag mir«, flötete er, »hat Talo-Toecan dir erlaubt, sie zu binden, oder ist sie immer noch – angreifbar?«
»Sie ist für Euch unerreichbar, Bailic«, flüsterte sie, halb verrückt vor Angst, er könnte doch eine Möglichkeit kennen, sie ihr zu entreißen.
Knurrend zerrte er sie die übrigen Stufen hinauf.
»Nutzlos!« , kreischte sie in Gedanken, als sie Bailics offene Tür vor sich sah.
»Benutze einfach das verfluchte Feld, Alissa!«
»Ich kann nicht«, schluchzte sie, und Bailic stieß sie über die Schwelle. Das Kribbeln des Banns, den Nutzlos geschaffen und Bailic zu seinen eigenen Zwecken pervertiert hatte, hieß sie willkommen. Sie war gefangen. Sie prallte gegen einen Tisch, stützte sich schwer darauf und holte zittrig Atem. Bailic trat einen Schritt auf sie zu, und sie wich aus, so dass der Tisch zwischen ihnen stand. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten in seine, während sie sich um den Tisch herumtastete. Dann stießen ihre Beine gegen einen Stuhl hinter ihr.
»Ich habe dich sogar um Hilfe gebeten«, sagte er und stieß den Tisch gegen sie. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich wider Willen auf den Stuhl, wie Bailic es offenbar geplant hatte. Mit hämmerndem Herzen blickte sie sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.
Nun, in seinem Zimmer, schien Bailic sich zu beruhigen; er nahm sich die Zeit, sich mit einem Tuch den Schmutz von den Fingern zu wischen. Alissas Blick fiel auf ihre Hände. Sie waren so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten, und sie zwang sich, sie zu lockern. »Nutzlos, bitte beeilt Euch« , flehte sie. »Er wird Strell töten. «
Es kam keine Antwort, und Alissa dachte schon, sie sei nun doch allein. Dann, näher, glaubte sie beinahe, fing sie seinen Gedanken auf: »Bald … «
»Du brauchst dich nicht allzu beschämt zu fühlen, meine Liebe«, sagte Bailic und ließ den Lappen fallen. »Deinem Vater ist es auch nicht gelungen, mich zu überlisten.« Er beugte sich vor, und seine feinen Gesichtszüge wurden weich, als er sie mit gespieltem Bedauern ansah. »Er war ein falscher, heimtückischer Bauernteufel, und ich habe auch ihn getötet.«
Sie schluckte schwer. »Ich weiß«, sagte sie mit zitternder Stimme, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Talo-Toecan hat mich seinen Tod nacherleben lassen, um mich abzuschrecken.«
»Was!« Das Wort klang scharf, und sie zuckte zusammen und verabscheute sich für das leise Keuchen, das ihr entschlüpfte. »Talo-Toecan hat dir erlaubt, eine Erinnerung nachzuerleben? Eine Erinnerung deines Vaters? Ich habe jahrelang darauf gewartet, diese Fähigkeit erlernen zu dürfen. Er hat es mir nie …«
Entsetzt beobachtete Alissa, wie sich seine Augen schwarz färbten, weil die Pupillen riesig
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