Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Zeit?«
»Ja« , antwortete sie und erkannte ganz genau, wie sie zueinander in Beziehung standen. Es war so einfach, wenn es einem erst jemand gezeigt hatte.
»Und dass eines davon im Wesentlichen wie das and e re ist?« , fuhr das Buch fort.
»Ja.«
»Dann gebe ich dir die erste Wahrheit. Entscheide du, was sie bedeutet. Energie« , belehrte es sie, »kann von e i nem Zustand in den anderen transformiert werden, doch dabei darf nichts verlorengehen oder hinzukommen. Masse ist auf ihre Weise genauso, sie verändert ihre Fun k tion, aber nicht ihre grundlegendste Form. Und die Zeit? Nun, die Zeit ist relativ. Sie ist das, was du daraus machst. Beherrsche dies, und du kannst dich zwischen den beiden Schwestern Energie und Masse hin- und he r bew e gen.«
»Du meinst, indem ich meine Pfade gebrauche?« , fragte Alissa ungläubig.
»Ja« , antwortete das Buch, wobei es irgendwie hinterhältig klang. »Benutze deine Pfade, um die Begrenzungen der Zeit zu umgehen, und du kannst deine Masse in Energie und wieder zurück verwandeln.«
»Aber wozu ist das gut?« , fragte sie. Das Wie erkannte sie deutlich, nur das Warum nicht.
»Versuche es.« Das Buch schien in ihren Gedanken zu kichern.
»Es versuchen?« , wiederholte Alissa, die immer verwirrter wurde.
»Versuche es« , flüsterte es herausfordernd und ein wenig spöttisch.
»Versuche es«, sagte Alissa laut, als ihre Welt mit einem Ansturm von Farben und Geräuschen aus dem Nichts entstand. Sie war außer Atem, und als Alissa nach Luft schnappte, wurde sie gänzlich aus ihrem traumartigen Zustand gerissen. Die Gedanken der Ersten Wahrheit waren verloren, in die Seiten ihres nun stillen Buches zurückgekehrt. Seine Arbeit war getan, und es rief nicht mehr nach ihr, doch sie erinnerte sich.
Der ebenholzschwarze Glanz um ihr Buch verblasste zu Grau, dann zu Silber und schwand schließlich völlig dahin. Sie starrte auf das Buch und fragte sich, weshalb Nutzlos sich solche Sorgen um sie machte. Dieses Wissen konnte niemandem Schaden zufügen. Das meiste davon hatte sie ohnehin schon gewusst.
Bailic stürzte sich über den Tisch und riss ihr das Buch aus den erschlafften Fingern. Er drückte es an seine Brust und wich mit aufgerissenen Augen zu seinem Schreibtisch zurück. »Was bedeutet das?«, schrie er wie von Sinnen.
Seltsam unbeeindruckt blickte Alissa zu ihm auf, ruhig und vollkommen in ihrer Mitte, wohl zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie brauchte das Buch nicht mehr. Seine Lektionen waren in ihr innerstes Wesen eingraviert worden. Das schwere Gefühl von Frieden, das es ihr eingegeben hatte, war nicht leicht abzuschütteln.
In der erwartungsvollen Stille prallte etwas mit einem leisen Ping auf den Boden. Etwas, das wie eine kleine graue Münze aussah, war aus dem Einband ihres Buches gefallen. Es hüpfte zweimal hoch, rollte ihr vor die Füße und beschrieb immer enger werdende Kreise, bis es mit einem leisen Klappern auf die Seite fiel.
Unwillkürlich streckte Alissa die Hand aus, um es aufzuheben. Es war kaum größer als ihr Daumennagel und lag leicht auf ihrer Handfläche. Es schimmerte in einem weichen Grau, das sich nun vor ihren Augen von der Wärme ihrer Hand zu einem leuchtenden Gold erhellte. In der tiefen Stille untersuchte Alissa das Ding und runzelte die Stirn. Es kam ihr bekannt vor, neckte sie mit einer Erinnerung an den Duft von Birkenpollen und Matsch – und ihren Papa.
»Was ist das?«, fragte Bailic, der sich, ihr aufgeschlagenes Buch an die Brust gedrückt, in eine Ecke drängte.
Alissa kniff die Augen zusammen und hielt es zwischen Zeigefinger und Daumen empor. Die Sonne leuchtete hindurch, und sie lächelte über das hübsche kleine Ding. Dann fiel es ihr wieder ein. Ihr Papa hatte es im Einband versteckt, kurz bevor er aufgebrochen war, um das Buch zur Feste zurückzubringen. Er hatte auch nicht gewusst, was es war.
»Nimm es« , forderte ihr Buch sie heraus, »und hülle es in ein undurchlässiges Feld, wie du es bei deinem Que l lenstaub getan hast. Binde es in dein Wesen. Rasch! B e vor die Chance verstreicht!«
»Alissa, nein!«, brüllte Nutzlos in ihren Gedanken, und von draußen hörte sie das Rauschen seiner Schwingen.
Wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose ertappt wird, schnappte Alissa sich ihren Schatz und verleibte ihn sich ein, da sie ihre Chance nicht vergeuden wollte, wie das Buch gesagt hatte. Mit einem scharfen Knall legte sich ihr undurchlässiges Feld darum herum, und sie erstarrte und schnappte
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