Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
nach Luft. »Nein!«, kreischte sie, als ihr gesamtes Netzwerk zum Leben erwachte. Jeder einzelne Kanal summte, erfüllt von der Energie, die urplötzlich aus ihrer Quelle freigesetzt wurde. Sie hatte das nicht getan. Sie hatte keine Kontrolle darüber, und es brannte wie Eis, zerstörte jedoch nichts. Zerstörung wäre ein Segen gewesen im Vergleich zu dem, was sie nun erlebte.
»Das tut weh! Bitte, mach, dass es aufhört!« , schrie sie stumm und brach dann zusammen. Das Letzte, was sie sah, war Bailic, der ihr aufgeschlagenes Buch an sich presste und sie mit vollkommen verblüffter Miene anstarrte.
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B ailic erstarrte, als sich Alissas schmaler Körper verkrampfte. Sie riss wie vor Entsetzen die Augen auf, und ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Dann brach sie mit einem leisen Seufzen auf dem Tisch zusammen. Er zögerte, denn er traute der ganzen Sache überhaupt nicht. Er trommelte mit den Fingern auf dem Einband des Buches herum und trat dann vorsichtig einen Schritt näher, wobei er sich fragte, was bei den Wölfen des Navigators soeben geschehen war.
Ihre Erklärungen zum Inhalt des Buches waren ihm unverständlich. Obgleich die Seiten in der Schrift der Rakus eng beschrieben waren, hatte sie sich nur beim ersten, kunstvoll verzierten Wort jedes Abschnitts aufgehalten und die Seiten dazwischen einfach überblättert. Die letzte Seite hatte er nicht einmal gesehen, da sie in dieser unheimlichen Schwärze verschwunden war, die sowohl das Buch als auch ihre Finger verschlungen hatte. Es war, als wollten seine Augen nicht wahrhaben, dass dort irgendetwas war – sie glitten mit einem schmierigen Gefühl davon ab. Und dann wandte sie sich ihm mit diesem zufriedenen, selbstsicheren Blick zu, den er aus seinen früheren Zeiten als Schüler kannte. Ihre Ausstrahlung erinnerte an einen Meister der Feste, und das hatte ihn wahrhaft erschüttert.
»Was für eine Bewahrerin du abgegeben hättest«, sagte er und rückte langsam zu dem Tisch vor, auf dem sie zusammengesunken lag, als sei sie beim Lernen eingeschlafen. Er legte das offene Buch auf den Tisch und beugte sich darüber. »Ein Jammer, dass du mein Angebot nicht annehmen wolltest.« Er hob ihren Kopf an, suchte nach einer Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und fand sie im Bogen ihrer Wangenknochen und der Länge ihrer Wimpern. »Doch jetzt kann ich dich natürlich nicht mehr am Leben lassen. Eines Tages wird deine wachsende Erfahrung dich mir überlegen machen.« Sanft, beinahe bedauernd, ließ er ihr Gesicht wieder auf den Tisch sinken.
Er war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, dass ihm die plötzliche Abwesenheit von Sonnenlicht auf dem Steinboden beinahe entgangen wäre. Der Schatten wurde begleitet von einem kaum wahrnehmbaren Scharren auf dem zerstörten Balkon. Doch erst als Talo-Toecan sich verwandelte, wurde Bailic wirklich bewusst, dass er nicht allein war. Er riss das offene Buch an sich und wich hastig zurück, bis er gegen die Wand stieß. »Es gehört mir!«, rief er, konnte aber nicht verhindern, dass seine Stimme vor Angst brach.
»Wenn du es fallen lässt, bist du Asche«, erwiderte Talo-Toecan knapp. Der Meister achtete nicht weiter auf ihn, sondern ging zu dem Mädchen hinüber. Ein flüchtiger Ausdruck von Kummer huschte über sein Gesicht, der so gar nicht zu dem stoischen, unerschütterlichen Gebaren passen wollte, das Bailics alter Lehrmeister der Welt sonst zeigte.
Bailic zögerte. Das hier hatte er nicht erwartet. Übergangen zu werden, als stelle er keinerlei Bedrohung dar, war empörend, aber zugleich auch beunruhigend. Seine Verwirrung verdreifachte sich, als ein eleganter Mann in Bewahrer-Kleidung in der Tür zu seinen Gemächern erschien. Es duftete nach Euthymienholz, und Bailic biss die Zähne zusammen. Die Situation war im Begriff, ihm völlig zu entgleiten.
»Ist es also so weit?«, fragte der Fremde und warf Bailic im Vorbeigehen ein verstohlenes Grinsen zu.
Der Meister blickte auf. »Sie war vollkommen unvorbereitet. Ich habe ihr einen schlechten Dienst erwiesen.«
»Ach«, entgegnete der Mann fröhlich. »Vielleicht wendet sich doch noch alles zum Guten.«
»Wer«, herrschte Bailic ihn an, »seid Ihr?«
Talo-Toecan bückte sich, hob Alissa hoch und trug sie mit Leichtigkeit auf beiden Armen, so dass ihr Kopf an seine Brust sank. »Wir müssen sie nach draußen bringen«, sagte er und ignorierte Bailic weiterhin.
»Halt!«, rief Bailic. »Ihr habt Euer Wort gebrochen, Talo-Toecan.
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